Wissenschaftsstandorte (3): Stadt der Experimente

Berlin hat drei Universitäten, Hochschulen der Künste und der Musik sowie eine Reihe ausseruniversitärer Forschungseinrichtungen. Doch der Sparkurs gefährdet das «Hirn der Republik».

Berlin ist eine beliebte Ausbildungsstätte: StudentInnen aus dem gesamten Bundesgebiet strömen in die Stadt, die mehr als alle anderen in Deutschland als Metropole und «Hirn der Republik» («Die Zeit») gilt. Hier sind die Humboldt-, die Freie und die Technische Universität, eine Hochschule der Künste und eine der Musik sowie zahlreiche ausseruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft angesiedelt. Dies macht die Stadt auch international attraktiv: Fast jeder zehnte ausländische Studierende in Deutschland ist an einer Berliner Hochschule eingeschrieben. Die Technische Universität hat mit rund zwanzig Prozent den bundesweit höchsten Anteil ausländischer Studierender.

Die vergleichsweise niedrigen Mieten machen das Leben in der Hauptstadt für junge Leute erschwinglich. Wer sich in Köln, Hamburg oder München gerade ein 25-Quadratmeter-Appartement leisten kann, findet hier die Möglichkeit, fürs gleiche Geld eine geräumigere Altbauwohnung zu beziehen. Die Stadt lockt zudem mit zahlreichen Clubs, Kaffees und Kneipen, in denen sich Neuberliner vortrefflich up to date zeigen können. Sogar in den Ostberliner Bezirken Mitte und Friedrichshain oder in den Westberliner Stadtteilen Kreuzberg und Schöneberg bestimmen die «Zujezogenen» das Bild.

Die StudentInnen bringen zwar viel Leben, aber wenig Geld in die Stadt. Der gravierende Finanzmangel des Landes Berlin wirkt sich bedrohlich auf die Bildungs- und Forschungslandschaft aus und droht, sie weiter zu schädigen.

Für viele Fächer ist die Geschichte Berlins und ihre Rolle als Hauptstadt von Bedeutung. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität, nennt die Nähe zur Politik als ersten Grund, der für den Standort Berlin spricht: «Hier werden die Entscheidungen gefällt, hierhin blickt man.» Zudem sind in der Stadt eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen wie etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten, die sich mit Antisemitismus, Rassismus oder interkulturellen Problemen beschäftigten.

Die Forschung des 1982 gegründeten Zentrums hat nicht nur die Geschichte der Feindschaft gegen Juden zum Gegenstand. Die MitarbeiterInnen interessieren sich etwa für Sinti und Roma oder Schwule – Gruppen, die mit Vorurteilen in der Gesellschaft konfrontiert wurden und werden. In der Multikulti-Stadt Berlin gebe es mehr Studienobjekte als andernorts, sagt Benz. Ein Schwerpunkt ist beispielsweise die Akkulturation von VietnamesInnen. In Berlin gibt es zwei getrennte vietnamesische Kolonien. Die Ostberliner VietnamesInnen kamen als VertragsarbeiterInnen in die DDR. Die vietnamesische Gemeinde in Westberlin wurde dagegen von Boat People gegründet. «Deren unterschiedliche Reaktionen auf die Mehrheitsgesellschaft oder die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft auf die Vietnamesen, das ist ein spannendes Thema, das sich so nur in Berlin studieren lässt», sagt Benz.

Von Sparmassnahmen blieb sein Institut bislang weitgehend verschont. Dazu mag beitragen, dass das Zentrum für Antisemitismusforschung – das einzige derartige Institut in Europa – ein Renommierobjekt der Technischen Universität ist. Doch die Streichungen öffentlicher Gelder betreffen das Zentrum indirekt. Die Lehramts- und Magisterstudiengänge Geschichte an der Technischen Universität sollen eingestellt werden. «Ich kann Antisemitismusforschung auf Dauer nicht zwischen Lebensmitteltechnologie, Astrophysik und Baustoffkunde betreiben», sagt Benz. Sein Lehrangebot richtet sich an die Fächer Geschichte, Sozialkunde oder Literaturwissenschaften. Bei einem Rückzug der Geisteswissenschaften blieben die StudentInnen aus.

Benz hält nichts davon, Holocaust-Lehrstühle einzurichten, die als Orchideenfach mit sechs oder sieben vor Betroffenheit schwitzenden StudentInnen arbeiteten. Er ist vielmehr daran interessiert, in die allgemeine Lehrerausbildung eingeklinkt zu sein und Antisemitismusforschung in den normalen Ausbildungskanon von GeschichtslehrerInnen einzubringen. Doch die Kürzungen «im Zeichen eines neuen Utilitarismus» gefährdeten die Geisteswissenschaften. Sie verhinderten die Bildung geistigen Kapitals: «Das wird die nächste Generation Politiker bemerken – und den Kahlschlag bedauern.»

Auch im naturwissenschaftlichen Bereich hat sich die Finanzknappheit nicht gut auf die Forschungsförderung durch das Land Berlin ausgewirkt, sagt Detlev Ganten, Chef der Charité, der Berliner Universitätsmedizin von Freier und Humboldt-Universität. Die Universitätsmedizin stecke in grossen Schwierigkeiten. Dagegen sei die Förderung durch bundesweite Forschungsorganisationen stabil und in Teilbereichen sogar verbessert worden. Das Budget des Berliner Max-Delbrück-Zentrums für molekulare Medizin etwa, von dem Ganten an die Charité wechselte, sei in den vergangenen Jahren von der Helmholtz-Gemeinschaft deutlich aufgestockt worden. Auch andere Organisationen haben in Berlin investiert, etwa die Max-Planck-Gesellschaft, die mit fünf Instituten vertreten ist, oder die Leibniz-Gemeinschaft.

Der Vorteil für die Berliner Hochschulen liegt auf der Hand: «Ein Schwerpunkt meiner Arbeit besteht darin, die defizitäre Entwicklung im Berliner Budget dadurch auszugleichen, dass man das Forschungspotenzial der anderen Organisationen für die Universitäten besser nutzt», sagt Ganten. Die frühere institutionelle Abgrenzung der universitären Forschung von den ausseruniversitären Instituten sei heute dadurch weitgehend aufgehoben, dass deren LeiterInnen meist auch eine Professur an einer der Hochschulen innehätten. StudentInnen könnten heute ihre Abschlussarbeiten direkt in diesen Instituten anfertigen, die zum Teil sogar auf Universitätsgelände liegen.

Nach dem Studium finden NaturwissenschaftlerInnen hier Möglichkeiten, ins Berufsleben einzusteigen, etwa in die Biotechnologiebranche. Neben Alteingesessenen wie dem Pharmaunternehmen Schering oder der Berlin Chemie haben sich etwa einhundert kleine und mittelständische Unternehmen aus der Bio- und Medizintechnikbranche angesiedelt.

«Life-Science ist sicherlich ein Zugpferd für den Forschungsstandort, weil in diesem Bereich viele Drittmittel bewegt werden und viele Industrieprojekte laufen», sagt Kai Uwe Bindseil von der Initiative BioTOP der Technologiestiftung Berlin.

Die Region in und um Berlin bietet nach seiner Schätzung mehr als zehntausend Menschen im Bereich Lebenswissenschaften hoch qualifizierte Arbeitsplätze. Als grösstes Hemmnis der Branche nennt Bindseil fehlendes Eigenkapital für die Produktentwicklung und den internationalen Markteintritt. Doch dies sei nach dem Platzen der Börsenblase um die Biotechnik ein kontinentaleuropäisches Problem. Während bis 2001 die Wachstumsraten am Biotechnikstandort Berlin noch im zweistelligen Prozentsatz lagen, steigt die Zahl der Arbeitsplätze nach einem vergleichsweise milde ausgefallenen Rückgang erst seit Ende 2003 wieder an. Hier zahle sich aus, dass die Unternehmen ihre Finanzmittel zumeist überregional akquirieren würden, sagt Bindseil.

Das hoch verschuldete Land Berlin spart, wo es kann. Die Regierung versucht, dem Sparzwang mit den so genannten Berliner Tarifverträgen nachzukommen. Die Ausgaben für Personal im öffentlichen Dienst wurden nach dem Modell «Arbeitszeit und Lohn kürzen, Arbeitsplätze sichern» heruntergefahren. Dies habe sich im personell grosszügig besetzten Verwaltungsbereich als wirksames Mittel erwiesen, sagt Ganten, in den öffentlichen Forschungseinrichtungen, für die die Verträge ebenfalls gelten, seien sie aber nicht realisierbar: Kein Wissenschaftler könne weniger arbeiten, die Arbeitszeit innerhalb der Projekte könne nicht einfach gekürzt werden. Für Ganten sind die Berliner Tarifverträge ein Beispiel für verfehlte Forschungspolitik: «Dass das Land nicht bereit ist, wissenschaftsadäquate Tarife zu gewähren oder sich dafür einzusetzen, ist eine grosse Gefahr für den Forschungsstandort Berlin.»

Lebensader für die Berliner Forschung sind die eingeholten Drittmittel. Die Berliner Hochschulen konnten diese Einkünfte 2003 um rund ein Zehntel steigern. Im Förder-Ranking der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sind sowohl die Humboldt- als auch die Freie und die Technische Universität unter den zwanzig meist geförderten Hochschulen in Deutschland vertreten. Zwischen 1999 und 2001 bewilligte die DFG der Forschung im biomedizinischen Bereich in der Region Berlin rund 113 Millionen Euro. Berlin ist damit etwa gleichauf mit München bundesweite Spitze. Die andern Naturwissenschaften wurden mit etwa 76 Millionen Euro gefördert. Einen Sonderstatus haben die Berliner Geisteswissenschaften: Hier bewilligte die DFG fast 70 Millionen Euro, mehr als doppelt so viel wie jeder anderen deutschen Universitätsstadt.

Ganten sieht den Forschungsstandort in einer besonderen Verantwortung: «Berlin ist die Experimentierstadt Deutschlands. In Berlin konzentrieren sich die Probleme, aber auch die Chancen des wiedervereinigten Deutschland.» In Berlin müssten Modelle für die Zukunft geschaffen werden. Ein solches könnte nach seiner Auffassung der Zusammenschluss der Berliner Hochschulen zu einer «Freien Humboldt-Universität» sein. Ganten sieht in dieser Idee, seinem «Lieblingsthema», die Möglichkeit, Synergien für Forschung und Lehre zu schaffen. Zudem würde die Wissenschaft in der Stadt politisch gestärkt und könnte mit Forderungen besser durchdringen.

Die unter dem Dach der Charité zusammengefasste Universitätsmedizin hat diesen Prozess bereits durchlaufen. Ganten hofft, dass sie ein Motor der modernen Forschungslandschaft Berlins wird und den Anfang der Hochschulvereinigung bildet. Doch dies ist Zukunftsmusik, die zudem nicht nur gerne gehört wird. «Die Leistungsfähigkeit besteht doch immer in den kleineren oder den mittelgrossen selbständigen Einheiten», sagt Wolfgang Benz. «Das zeigt doch gerade das Beispiel Schweiz.»

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