Mehrere Wunder pro Woche Adeline Stern führt auf dem Balcon du Jura ein unabhängiges Programmkino. Es läuft gut – auch weil die Solidarität überall mitgedacht wird.

Kommt man im Cinéma Royal in Sainte-Croix zur Tür herein, sieht man links an einer Schnur mit Wäscheklammern einige Gratistickets hängen: Wer will, nimmt sich eins, ohne sich ausweisen und an der Kasse danach fragen zu müssen. Wie die Dinge laufen, hier, in diesem bis heute unabhängigen Kino hoch oben im Waadtländer Jura, erklärt sich wohl gerade am besten damit.
Hinter Yverdon geht es in engen Serpentinen den Berg hoch auf den «Balcon du Jura». Selbstsicher donnern Autos mit Waadtländer Nummernschildern und erstaunlich viele Lastwagen vorbei. Oben angekommen, führt die Strasse Richtung Sainte-Croix, das an diesem kalten Tag wider Erwarten im Nebel liegt; weiter unten hatte noch die Sonne geschienen. Sainte-Croix, «Hauptstadt der Spieldose», liegt auf 1068 Metern über Meer und grenzt nordwestlich an Frankreich. Gut 5000 Menschen leben hier vor allem im Dorfzentrum, umgeben von viel Wald und einem Moorgebiet. Es gibt einen Coop und eine Migros, einen Secondhand- und einen Absinthladen, eine Kunstgalerie, mehrere Beizen, eine Post und einen Bahnhof: beschaulich, nicht ausgestorben. An der Avenue de la Gare liegt das «Royal», mit Neonleuchtlettern angeschrieben, 1931 erbaut: ein hübscher, geduckter Bau mit rotem, dreieckig zulaufendem Vordach, davor ein grosser Parkplatz.
Chefin ohne Lohn
Adeline Stern schliesst die Tür auf. Energisch schüttelt sie einem die Hand, bietet Kaffee an und führt hinein, wo es hinter dem Eingangsbereich mit Schalter und Bar («à prix libre») auch einen schmalen Gastraum gibt, eingerichtet mit Tischchen, Sofas, stoffbezogenen Hockern. Es ist gemütlich, ein bisschen «grümschelig», und wer jetzt denkt: Provinzkino, denkt vollkommen richtig – nicht stilsicher bis zur Katalogtauglichkeit, dafür solidarisch bis in den letzten Winkel.
Stern gehört zu diesem Kino und das Kino zu ihr, seit vielen Jahren ist sie mit ihrer Arbeit hier verwachsen. Davor wurde das «Royal» als Familienbetrieb geführt, von den frühen sechziger bis in die späten neunziger Jahre: Das Betreiber:innenpaar hielt das Kino nebenbei am Laufen, sie arbeitete im Coop, er als Lastwagenfahrer. Über die Jahre häuften sich Schulden an, und als die beiden auf die Pension zugingen, deutete alles darauf hin, dass das «Royal» bald Geschichte sein würde: Man wollte es abreissen und an seiner Stelle einen grossen Parkplatz asphaltieren.
Um den Untergang zu verhindern, tat sich 1998 um Adeline Stern eine Genossenschaft zusammen, die das Kino samt Schulden übernahm. Am Anfang hätten sie versucht, sich basisdemokratisch zu organisieren, erzählt Stern: «Alle hatten zu allem eine Meinung, und wir haben viel Zeit für Diskussionen mit wenig Resultat verbraten.» Also wandelten sie 2003 die Organisationsform um. Stern wurde Chefin, die anderen Angestellte – ja, lacht sie, das sei konsensuell passiert und für die Sache am Ende am besten gewesen. Sie mache die Dinge schliesslich auch so ein wenig anders: Alle verdienen im «Royal» dasselbe, abgesehen von der Haushälterin, deren Arbeit die mühsamste sei, weshalb sie mehr erhalte. Und die Chefin? Arbeitet ohne Lohn, sozusagen die einzig übrig gebliebene Freiwillige im eigenen Laden. Das Gebäude gehört bis heute der Genossenschaft, Stern zahlt ihr einen Mietzins – mit Unterstützung der Gemeinde Sainte-Croix. Finanzielle Unterstützung gibt es zusätzlich vom Kanton und von verschiedenen Stiftungen.
Mit Marvel macht sie Minus
Stern spricht routiniert, sie kennt ihre Arbeit, das «Royal», das Städtchen und seine Leute in- und auswendig, und sie erzählt das alles offensichtlich nicht zum ersten Mal. Doch es dauert nicht lange, da beginnen ihre Augen beim Reden zu leuchten. Das Kino beschere ihr mehrmals die Woche grosse Gefühle: «Mehrere Wunder pro Woche, einfach so.» Die Freude daran werde, je mehr Filme sie sich anschaue, nur immer grösser und grösser.
Das Programm im «Royal» gestaltet Stern allein, vier bis fünf Filme wöchentlich: ein «film grand public», zwei Arthousefilme, davon einer etwas einfacher, der andere komplizierter oder schwerer, und ein Kinderfilm. Oft laufen die Filme fürs «grosse Publikum» am schlechtesten. Mit Marvel-Produktionen mache sie zum Beispiel immer Minus, weil die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht ins Kino komme. «Die kriege ich einfach nicht. Aber ich gebe nicht auf», sagt Stern. Ihre Augen funkeln, und sie wischt einen kurzen kulturpessimistischen Anflug über Streaming, Smartphones, die Aufmerksamkeitsspanne bei den Jungen und deren Auswirkungen aufs Kino bald wieder beiseite: «Was sind schon die Probleme des Kinos gegen die Probleme, die wir sonst haben auf der Welt?»
Sowieso sind es die ganz Jungen, deretwegen sie ihre Zuversicht behält: Seit vielen Jahren verdient Stern ihren Lebensunterhalt bei der Zauberlaterne, einem Filmklub für Kinder, der Vorführungen im ganzen Land organisiert. Neben der Programmation ist sie hier für die kurzen Theateranimationen zuständig, die vor den Aufführungen gespielt werden (da hilft es, dass Stern irgendwann in ihrem dichten Leben auch mal eine Ausbildung als Komikerin absolvierte). Unmöglich, die Hoffnung ins Kino zu verlieren: «Wenn du einen ganzen Saal voller Kinder siehst, wie sie an derselben Stelle in Gelächter ausbrechen – oder in Tränen.»
16 000 Eintritte verzeichnet das «Royal» jährlich, oder 20 000, wenn man die zusätzlichen Anlässe dazuzählt. Es gibt Premierenfeiern und Podien, Konzerte und Feste. Ganz selbstverständlich ist das «Royal» als kulturelles Zentrum auch ein soziales: Stern ist gut vernetzt in der Gegend, mit anderen Kulturorten und verschiedenen Institutionen wie dem Spital und insbesondere dem Asylzentrum in der Nähe. Für Asylsuchende kostet ein Kinoeintritt zwei Franken, viele Filmaushänge werden jeweils auf Tigrinya, Arabisch oder Farsi gedruckt, und regelmässig kochen Asylsuchende an speziellen Abenden aus den Küchen ihrer Heimat für die Gäste.
Für die ganze Romandie
Auch die Gemeinde weiss, wie wichtig das «Royal» und seine Betreiberin für die Region sind: Vor Jahren hat man Stern für wenig Geld ein Haus verkauft, aus Angst, sie könnte sonst vielleicht abwandern. Seither lebt sie in La Vraconnaz, einem Weiler dicht am Moorgebiet, in einem Haus mit Permakulturgarten und Hühnern. Manchmal kommt der Luchs vorbei. Es gibt viel Sonne, «das ist das wahre Leben».
Geboren ist Stern in Tunis, aufgewachsen in Paris. Der Vater arbeitete für die Uno, die Familie zog nach Genf, als Stern im Jugendalter war. Mit ihrem Exmann, dem Vater ihrer beiden Töchter, kam sie dann in den Jura, «er war Landschaftsmaler, er musste in der Natur sein» – sie ist bis heute geblieben. Und kaum je allein, wo sie im Dorf alle kennt und dauernd auf der Strasse auf einen Film oder sonst etwas angesprochen wird.
Auch von weiter her kommt Besuch: Weil das «Royal» zum Beispiel viele Deutschschweizer Filme als einziges Kino in der Romandie zeigt, kommen die Leute aus der ganzen Westschweiz. Und so manche:r Regisseur:in macht auf Premierentour halt in Sainte-Croix: «Die wissen, dass sie nachher bei mir im schönen Haus übernachten dürfen», freut sich Stern. Dann komme es vor, dass sie mit ihren Gästen bis zum Morgengrauen am Küchentisch sitze. Landleben nicht als Rückzug also – obwohl Stern vorgesorgt hat: Nur halb im Scherz sagt sie, dass die riesige DVD-Sammlung zu Hause, neben Permakultur und Wasservorrat, sie durchbringen werde, wenn dereinst die Katastrophe ausbreche.