Schattenboxen gegen den Regenbogen

Wir müssen es schon dermassen lange über uns ergehen lassen, dass wir fast schon vergessen haben, wütend zu sein. Seit Jahren geisseln uns deutschschweizerische Zeitungsredaktionen mit Meinungsstücken über «Gender-Gaga», «Sprachschändung» oder «Woke-Kultur», als lebten sie in einer unterdrückerischen Regenbogendiktatur (mit verblüffender Meinungsäusserungsfreiheit). Als wären sie die Mutigen, die in einem widrigen Umfeld gegen «den Mainstream» anschreiben.

Die letzte Woche hat wieder einmal gezeigt, dass wir uns an diese Verdrehung nicht gewöhnen dürfen. Wer nämlich über «Diversity-Extremisten» oder «Gefühlsterror» hyperventiliert, führt offensichtlich ein Leben in der Schreibstube oder in einer sonstigen toxischen Filterbubble – und ganz bestimmt nicht in der Realität.

Zum Beispiel in der Realität von Malte C., der in Münster am Christopher Street Day intervenierte, als zwei Frauen von einem jungen Mann queerfeindlich beleidigt wurden. Malte C. erhielt einen Faustschlag ins Gesicht, musste im Spital ins künstliche Koma versetzt werden, wo er am Freitag tragischerweise an seinen Verletzungen starb.

Jeder Einzelfall hat bei genauem Hinschauen seine Komplexitäten. Und je nach politischem Eigeninteresse lassen sich daraus hässliche Debatten ableiten, wie sie jetzt auch in Deutschland bereits angelaufen sind: etwa über den Aufenthaltsstatus des mutmasslichen Täters oder über die Geschlechtsidentität von Malte C., einem trans Mann. Umso wichtiger, den Blick aufs grössere Ganze zu behalten: Queerfeindliche Übergriffe nehmen in der Schweiz genauso zu wie in Deutschland. Sie reichen von verbalen Beleidigungen bis hin zu Gewalttaten.

Wer in diesem gesellschaftlichen Umfeld weiterhin einen selbstbezogenen Schattenboxkampf gegen eine angeblich aufziehende Regenbogendiktatur führt, ist weder mutig noch unschuldig – sondern befeuert willentlich jenes queerfeindliche Grundrauschen, das zahllosen Menschen Sicherheit und Freiheit raubt. Vergessen wir nicht, darüber wütend zu sein, jedes einzelne Mal.
Mona Molotov ist die meinungsstärkste Möwe des Landes. Sie schreibt regelmässig im «Zoo» auf woz.ch!