Pendlerzeitung mit Klassenhass
Rechtspopulistischer Denunziantenjournalismus! Wie könnte man es sonst nennen?! Man druckt zwar noch eine Zeitung, hat aber null Bock, irgendetwas Wertvolles zu erzählen. Also kocht man ein paar kleinkarierte Ressentiments auf, gibt den Leuten das Gefühl, sie seien selber am Hebel, eine richtige Community, verbunden durch ihre geteilte Abscheu gegenüber allem, was in ihrer beschränkten Vorstellung vom anständigen Leben keinen Platz hat. So kommt dann eine Story zustande, wie sie «20 Minuten» diese Woche mit grossem Foto auf der Frontseite druckte: «Das ist das hässlichste Haus der Schweiz». Der ganze Inhalt ist das Ergebnis einer Onlineumfrage unter Leser:innen.
Neu ist das nicht, «20 Minuten» berichtet seit über zehn Jahren über «das hässlichste Haus der Schweiz». Es ist immer wieder ein anderes, aber eine Tendenz ist erkennbar: zu eigenwillige moderne Architektur oder zu viel Sichtbeton, oft Wohnblöcke, in denen Menschen mit wenig Geld wohnen. Häuser wie Blochers lächerlicher Wohnbunker in Herrliberg sind nie in der Auswahl. «20 Minuten» – die Pendlerzeitung mit dem Klassenhass.
Diese Woche hat es ein besonderes Bijou getroffen: die Siedlung «Unteraffoltern II» in Zürich Affoltern, auch bekannt als Isengrind. Die beiden Wohnblocks aus Beton wurden in den sechziger Jahren erbaut, ursprünglich hätten sie Teil eines integral erbauten Stadtteils für 5000 Bewohner:innen werden sollen. Damit erinnern sie an eine Zeit, in der auch für die weniger zahlungskräftige Bevölkerung visionär geplant und gebaut wurde. Heute sind vierzig Prozent der Wohnungen subventioniert. Das scheint zu provozieren, auch eine Reportage von tsri.ch über die Isengrind-Häuser ist durchzogen von herablassenden Bemerkungen, wie hässlich hier alles sei.
Der Architekt der beiden vierzig Meter hohen und sechzig Meter breiten Hochhäuser hiess übrigens Georges P. Dubois und war ein Schüler von Corbusier, die Siedlung «Unteraffoltern II» ist eine kleine Unité d’Habitation für die Schweizer Agglo. Aber was erzähle ich euch Banausen von «20 Minuten» schon, und selber habt Ihr ja sowieso nichts gemacht, nur «die Stimme des Volkes» habt Ihr sprechen lassen.
Mona Molotov ist die meinungsstärkste Möwe des Landes. Sie schreibt regelmässig im «Zoo» auf woz.ch.
Spenden
Hat Ihnen dieser Text gefallen? Hat er Ihnen geholfen, Ihre Haltung zum Thema zu schärfen, oder hat er Sie vortrefflich provoziert? Und was ist Ihnen das wert? Unabhängiger Journalismus ist auf einen Beitrag vieler angewiesen.
Einen Betrag spenden