Prozess gegen Lina E.: Mit Freudentränen und Krawall

Nr. 23 –

In Dresden wurden letzte Woche die Antifaschistin Lina E. und drei weitere Beschuldigte verurteilt. Das grösste Verfahren der vergangenen Jahre gegen die linksautonome Szene gibt weiter zu reden.

Am Ende brachen im Verhandlungssaal euphorischer Jubel und Applaus aus. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats hatte verkündet, dass der Haftbefehl gegen Lina E. ausgesetzt werde – unter Auflagen, wie dass sie sich zweimal wöchentlich auf einer Wache in Leipzig melden müsse. Der Angeklagten war das offensichtlich egal. Sie hatte Freudentränen in den Augen und umarmte ihre Anwälte. Nach über zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft durfte die 28-Jährige am vergangenen Mittwoch das Gericht zunächst in Freiheit verlassen.

Stundenlange Kreuzverhöre

Doch die Bilanz des Tages ist alles andere als erfreulich. Nach 98 Verhandlungstagen verurteilte der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden die vier beschuldigten Antifaschist:innen zu mehrjährigen Haftstrafen. Lina E. erhielt mit fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis die höchste Strafe. Seit November 2020 hatte die Studentin in Untersuchungshaft gesessen. Die drei weiteren Beschuldigten erhielten Haftstrafen zwischen rund zweieinhalb und gut drei Jahren. Das Gericht folgte damit der Anklage der Bundesanwaltschaft und ist von der Existenz einer «linksextremistischen kriminellen Vereinigung» überzeugt, deren Ziel es gewesen sei, Rechtsextreme und Neonazis anzugreifen.

Der Prozess in Dresden war wohl das grösste und bedeutendste Verfahren gegen die linke Szene seit über zwei Jahrzehnten. Er war von immer neuen Wendungen gekennzeichnet. Zunächst prägten intensive Kreuzverhöre von Rechtsextremisten und stundenlange Befragungen von Gutachter:innen den Verfahrensverlauf.

Letzten Sommer präsentierte die Bundesanwaltschaft dann überraschend einen Mann aus dem engsten Umfeld der Angeklagten, der fortan als Kronzeuge auftrat und Lina E. sowie ihren untergetauchten Verlobten, Johann G., schwer belastete. Beide sollen massgeblich an Angriffen auf Neonazis beteiligt gewesen sein. Durch den Kronzeugen führt das Verfahren bis in die Schweiz: Deutsche Verfassungsschützer hatten ihn offenbar für die Zusammenarbeit gewinnen und Ende April 2022 auch in Basel verhören können. Anscheinend ging es dabei um Johann G., der Deutschland über Zürich verlassen haben soll. In die Befragung seien auch Schweizer Beamt:innen eingebunden gewesen, sagte der Kronzeuge vor Gericht aus.

Noch im Frühjahr 2023 erbrachte die Verteidigung wiederum für einen der Beschuldigten ein Alibi für eine der vorgeworfenen Taten. Das Gericht sprach den Mann in diesem Punkt frei. Auch deshalb wählte Lina E.s Verteidiger Ulrich von Klinggräff scharfe Worte, als er nach Verfahrensende vor die Presse trat: «Dieses Urteil ist für uns in keinster Weise akzeptabel, wir halten es für ein eklatantes Fehlurteil.» Es sei im Verfahren immer wieder zu einer «Beweislastumkehr» gekommen, bei der die Verteidigung die Unschuld ihrer Mandant:innen habe beweisen müssen – statt dass der Staat die Schuld der Angeklagten zu beweisen hatte.

Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn hatte ursprünglich acht Jahre Haft für Lina E. und eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls gefordert. Sie gab sich nach Prozessende zufrieden: «Der Senat hat mit seinem Urteil vom heutigen Tage die wesentlichen Anklagevorwürfe der Bundesanwaltschaft bestätigt – insbesondere das Bestehen einer kriminellen Vereinigung.»

«Eine Million für jedes Jahr Haft»

Gar nicht zufrieden mit dem Urteil ist demgegenüber die antifaschistische Bewegung: Linksautonome hatten seit längerem zu einer Grossdemonstration für Samstag nach dem Urteil nach Leipzig mobilisiert. Auf dem Portal Indymedia erschien zwischenzeitlich ein Aufruf, der «eine Million Euro Sachschaden für jedes verurteilte Jahr Haft» forderte. Bereits am Abend des Urteils kam es in mehreren deutschen Städten zu Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Umso härter war die Reaktion der sächsischen Behörden am Samstag nach dem Urteil: In Leipzig wurden – bis auf eine Demonstration – alle Veranstaltungen mit Bezug zum Verfahren gerichtlich untersagt. Auf der einzigen genehmigten Demonstration fanden sich 1500 Menschen ein, die jedoch von einem dichten Polizeikordon am Loslaufen gehindert wurden, weil sich Personen vermummt und Steine aufgesammelt haben sollen.

Als eine Gruppe Demonstrant:innen einen Ausbruchsversuch startete, eskalierte die Situation. Die Polizei kesselte nach eigenen Angaben über 1000 Menschen ein – darunter offenbar viele Unbeteiligte und etliche Minderjährige, die teils bis zu elf Stunden ohne Essen, Wärmeschutz in der Nacht und Toiletten ausharren mussten. Die Linke hat nun für Mitte Juni eine Sondersitzung des Innenausschusses einberufen, die den Polizeieinsatz aufarbeiten soll.

Dass Sachsen weiterhin die Ermittlungen gegen Antifaschist:innen gegenüber rechtsextremen Strukturen priorisieren dürfte, machte derweil Armin Schuster, der Innenminister des Bundeslands, am Dienstag deutlich: Die Entwicklung des Linksextremismus brauche mehr Aufmerksamkeit, so der CDU-Politiker Schuster. Er rückte Lina E. und ihr Umfeld in die Nähe der RAF und auch des NSU – des rechtsextremen Netzwerks aus Sachsen und Thüringen, das über Jahre hinweg ungehindert rassistische Morde begangen hat.