Neokonservatismus in Italien: Die Agenda der religiösen Rechten
Nicht von ungefähr ist in Italien derzeit eine frauen-, queer- und genderfeindliche Politik im Aufwind: Innerhalb eines Jahrzehnts haben christliche Fundamentalist:innen gezielten Einfluss auf die Rechtsparteien genommen.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Kampf der italienischen Rechten gegen die angebliche «Wokeness» im Land im vergangenen September. Das Parlament nahm einen Antrag «gegen Genderpropaganda an Schulen» an.
Ein Antrag ist zwar kein Gesetz, gibt aber der Regierung eine politische Leitlinie vor; man wolle sich damit gegen die «Hypersexualisierung» von Kindern und den mit EU-Geldern finanzierten «Dragtivismus» wehren, verkündete Rossano Sasso, der stellvertretende Staatssekretär für Kultur, Wissenschaft und Bildung, der den Antrag eingebracht hatte. Junge Menschen würden in Bildungseinrichtungen dazu ermutigt, den «sexuellen Binarismus» zu überwinden, und mit der «Genderideologie» indoktriniert, heisst es darin. Angenommen wurde der Antrag dank der Unterstützung der drei Rechtsparteien Fratelli d’Italia (FdI), Lega und Forza Italia.
Dass Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre extrem rechte Fratelli d’Italia die Rechte von Frauen und Queers angreifen, ist zwar nicht ganz neu. Aber die proklamierte «Antigenderpolitik» war nicht immer Teil der politischen Strategie der Partei. Und es greift zu kurz, sie bloss als Teil eines generellen, scheinbar unaufhaltsamen «antiwoken» Backlashs, wie er sich aktuell in weiten Teilen Europas beobachten lässt, verstehen zu wollen. Vielmehr stecken dahinter gezielte Bemühungen bestimmter Akteur:innen. In Italien haben die Angriffe auf reproduktive und queere Rechte in den vergangenen Jahren explizit unter dem Deckmantel des «Schutzes der Familie» zugenommen, und es fragt sich: Wie hat diese Ideologie ihren Weg ins Programm von Melonis Regierungspartei gefunden?
Für die Familie – gegen wen?
Eine Antwort ist in einem Wohnhaus im Zentrum der Hauptstadt Rom zu suchen, etwa fünfzehn Gehminuten vom Kolosseum entfernt. Der Schriftzug «Pro Vita & Famiglia» prangt im Erdgeschoss an der Hauswand, halb in Hellblau, halb in Rosa. Zwei Kameras überwachen von oben die Glastür, ein Vorhang versperrt den Blick ins Innere fast vollständig. Im Hauptquartier einer der mächtigsten Organisationen der religiösen Rechten Italiens brennt kein Licht, und keine:r der Mitarbeiter:innen will an diesem Septembernachmittag, keine zwei Wochen nach der Annahme des Antrags im Parlament, mit der WOZ sprechen. Genau wie in den Monaten zuvor, in denen zahlreiche Gesprächsanfragen abgelehnt wurden.
Pro Vita & Famiglia ist die wichtigste Organisation der italienischen Antiabtreibungsbewegung, die die sogenannt natürliche Familie über alles stellt. Ihre Aktivitäten reichen von Kampagnen über persönliche Beratungen bis hin zu Lobbyarbeit. Sie stellt sich selbst als parteiunabhängig dar, betreibt gleichzeitig aber viel politische Arbeit – auf nationaler wie auch auf EU-Ebene. Entstanden ist sie aus dem Zusammenschluss der zwei Organisationen Pro Vita und Generazione Famiglia, und verkündet wurde die Neugründung 2019 in Verona: auf dem «World Congress of Families», einer in den zehner Jahren meist jährlich stattfindenden internationalen Versammlung, auf der rechtsreligiöse Akteur:innen Strategien zur politischen Einflussnahme diskutierten.
Dass der «World Congress of Families» damals in Verona stattfand, ist Antonio Brandi zu verdanken, gemeinhin bekannt als Toni. Der Gründer und heutige Vorsitzende von Pro Vita & Famiglia ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten der christlichen Rechten in Italien. Er pflegt enge Kontakte zu Roberto Fiore, dem Gründer der rechtsextremen Partei Forza Nuova, dessen Sohn Alessandro heute Teil des juristischen Teams von Pro Vita & Famiglia ist. Toni Brandi spielt seine Verbindungen zur rechtsextremen Forza Nuova als «alte freundschaftliche Kontakte» herunter.
Pro Vita, einen der Vorläufer von Pro Vita & Famiglia, gründete Brandi bereits 2012. Zunächst sollte dieser sich für klassische Pro-Life-Themen einsetzen: für die traditionelle Familie, gegen Abtreibungen. Doch seit 2014 kamen vermehrt Narrative gegen eine angebliche «Genderideologie» hinzu. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde in Europa ein Netzwerk aktiv, das es sich zur Aufgabe machte, die europäische Politik mit christlich-fundamentalistischen Werten zu beeinflussen.
«Agenda Europe»
Der WOZ liegt ein Leak aus dem vergangenen Jahr vor, der E-Mails enthält, die eine Gruppe namens Agenda Europe zwischen 2016 und 2019 an einen umfangreichen Verteiler versandt hat. Hinter dem Namen versteckt sich ein «extremistisches christliches Netzwerk im Herzen Europas», wie es Neil Datta formuliert, der Vorsitzende des European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (EPF). In einer Studie hat das EPF detailliert dargelegt, dass Agenda Europe aus 100 bis 150 Personen besteht, die ab 2013 gemeinsam das erklärte Ziel verfolgten, die «Wiederherstellung der natürlichen Ordnung» zu erwirken.
Unter den geleakten E-Mails finden sich auch Nachrichten von Toni Brandi. Er schrieb etwa, als Italien im Februar 2016 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte: «Das ist das Schlimmste, was passieren konnte.» Und auch Luca Volontè, ein Vertrauter Brandis, war demnach Teil des Agenda-Europe-Netzwerks. Kein unbedeutender Name: Der italienische Politiker hatte bis 2013 während dreier Jahre den Vorsitz der konservativen Volkspartei-Fraktion (EVP) im Europarat in Strassburg inne. Und gleichzeitig sei Volontè eine «Schlüsselfigur» beim Aufbau christlich-fundamentalistischer Netzwerke in Italien gewesen, erklärt der Politikwissenschaftler Massimo Prearo, der sich an der Universität von Verona seit vielen Jahren mit der christlichen Rechten und insbesondere den selbsternannten «movimenti anti-gender» im Land beschäftigt. Volontè habe lange als zentraler Verbindungsmann zwischen Netzwerken in Italien und anderen europäischen Ländern fungiert, so Prearo.
Im Januar 2021 wurde Luca Volontè im Zuge eines Geldwäschereiskandals, der unter dem englischen Namen «Azerbaijani Laundromat» Schlagzeilen gemacht hatte, verurteilt. Im Rahmen dieses Skandals wurde zutage gefördert, dass Millionen Euro aus Russland und Aserbaidschan nach Italien geflossen waren, um dort rechte, christliche Organisationen und deren Antigenderkampagnen zu finanzieren. Auch Volontè hatte Schmiergeld angenommen.
Im Juni 2021, kurz nachdem das EPF in einem Bericht zahlreiche Mitglieder von Agenda Europe öffentlich exponiert hatte, wurde die Mailingliste des Netzwerks gelöscht. Stattdessen geht aus den im vergangenen Jahr geleakten Nachrichten hervor, dass unter dem Namen «Vision Network» ein neues Netzwerk entstanden ist. Wer Teil davon ist und welche Aktionen dort geplant werden, lässt sich bislang allerdings nicht eruieren.
Was sich jedoch beobachten lässt, ist die Wirkung, die die Kreise rund um den international vernetzten Toni Brandi bereits jetzt, ganz real, im politischen Geschehen Italiens entfalten. Politikwissenschaftler Prearo stellt fest, dass die Parteien von der internationalen religiösen Rechten nicht nur Argumentationslinien, sondern gleich auch Personal übernommen haben. Simone Pillon etwa, der zwischen 2007 und 2016 in Rom mehrere «Family Days» gegen die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare organisiert hatte, liess sich 2018 zum Abgeordneten der rechtsextremen Lega wählen. Und die Nähe wurde etwa auch 2022 deutlich, als zahlreiche Kandidat:innen der FdI ein Pro-Life-«manifesto» der Antigenderbewegung unterzeichneten. Pro Vita & Famiglia liefere die ideologische Basis für das, was politisch von den Parteien umgesetzt werde, sagt Massimo Prearo.
Italien als Fallstudie
Die Politik, die daraus folgt, hat ganz konkrete Auswirkungen: 2024 wurde im Parlament ein Beschluss verabschiedet, der es Pro-Life-Aktivist:innen erlaubt, ihre Propaganda gegen Schwangerschaftsabbrüche auch in staatlichen Beratungsstellen für betroffene Frauen zu verbreiten. Der Schritt ist ein direkter Angriff auf die Beratungsstellen und den gesundheitlichen Schutz der betroffenen Frauen – und er erfolgte ganz gezielt. «Wir wissen, dass dieser Beschluss von Pro Vita & Famiglia geschrieben und vorgelegt wurde», sagt Prearo.
So lasse sich Italien als eine Art Fallstudie dafür verstehen, wie eine Bewegung binnen weniger Jahre ein schlagkräftiges Netzwerk erschaffen und die politische Sphäre eines Landes so stark beeinflussen könne, dass Parteien ihre Wahlprogramme daran anpassten, so Prearo.
Der im September angenommene Antrag von Rossano Sasso «gegen Genderpropaganda an Schulen» ist dafür nur das jüngste Beispiel. Und obwohl er kein konkretes Gesetz ist, wird er trotzdem bereits genutzt, um potenzielle Entscheidungen in diese Richtung zu rechtfertigen – etwa indem er aktuell beigezogen wird, um den Kampf gegen Studiengänge im Bereich der Geschlechterforschung an italienischen Universitäten voranzutreiben.
«Die Einschränkung der Rechte wird weitergehen», sagt Politikwissenschaftler Prearo. «Die Allianz zwischen Antigender- und Pro-Life-Bewegungen mit rechtsextremen Parteien basiert auf dem Versprechen, das liberale Verständnis der italienischen Demokratie neu zu definieren.»