Ausstellung: Die Rache am «Penisneid»

Nr. 44 –

Das Landesmuseum führt ins Reich der Schweizer Seelenlandschaften und zu C. G. Jung. Dort finden sich Abgründe, Geistesblitze, Zerwürfnisse und Gewalt, aber auch rebellische Kunst von Weltrang.

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Heidi Buchers Raumabzug «Das Audienzzimmer des Doktor Binswanger»
Zum Abschied gibts Latex: Heidi Buchers Raumabzug «Das Audienzzimmer des Doktor Binswanger» in der Zürcher C.-G.-Jung-Ausstellung.   Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Bilder, die auch Tage nach dem Ausstellungsbesuch noch durch den Kopf spuken: die abgetragene Lederjacke von Mariella Mehr, der wunde Blick von Annemarie Schwarzenbach, das prägnante Augenpaar des Anthroposophen Rudolf Steiner. Aber auch die mit wirrem Bleistiftgekritzel gefüllte Doppelseite des Notizbuchs von Friedrich Nietzsche, die den Beginn seines Sturzes in den Wahn markiert; daneben überdimensionale «Zwangshandschuhe», «Zwangsbäder» und anderes Horrorwerkzeug aus der Frühzeit der Psychiatrie; die Antiphallusskulptur «Fillette» der Künstlerin Louise Bourgeois, die, geheimnisvoll lockend, über der betont schlichten Behandlungscouch der Zürcher Psychoanalytikerin Goldy Parin-Matthèy baumelt.

Die neue Wechselausstellung im obersten Stock des Zürcher Landesmuseums handelt von C. G. Jung – und von der «Entdeckung der Psyche in der Schweiz», wie es im Untertitel heisst. Die genannten Objekte sind nur ein Bruchteil der reichen thematischen Klammer, die hier um den Schweizer Tiefenpsychologen und Archetypenlehrer Jung gelegt wird. Sein 150. Geburtstag ist der Anlass, um die viel grössere Geschichte von Seelensuche, Psychiatrie und Psychoanalyse in der Schweiz mit ein paar konzentrierten Herleitungen und vielen, breit gestreuten Beispielen zu erzählen.

Anbandeln mit den Nazis

Vorneweg: Zu Jung wird sich hier wohl niemand bekehren, der oder die nicht bereits von ihm angetan ist. Im zentralen Raum der Schau hat der Kurator Stefan Zweifel Jungs Universum rund um dessen «Rotes Buch» kundig ausgelegt und illustriert: mit Respekt – und mit der nötigen Kritik. Erst vor ein paar Monaten hat der Historiker Urs Hafner im «Magazin» anhand von wieder ausgegrabenen Briefen nochmals Jungs nazifreundliches Engagement in Erinnerung gerufen: das Anbandeln mit den «Herrenmenschen» in Deutschland, den Antisemitismus auf und zwischen den Zeilen seiner Aufsätze und seiner Korrespondenz.

Auch im Landesmuseum gibt es eine Station dazu, im Ausstellungskatalog einen längeren Aufsatz von Zweifel, der Jungs Mäandern zwischen antisemitischen Ressentiments, aber auch teils anständigem Verhalten gegenüber verfolgten jüdischen Berufsgenossen gut nachzeichnet. Erst 1939 trat Jung als Präsident der NS-dominierten Gesellschaft für Psychologie zurück. Dass er nach dem Krieg auf der Suche nach Vergebung seine Kollaboration mit der Phrase beschrieb, er sei «ausgerutscht», kann man anderswo nachlesen. Schwer wiegt auch, dass er die Theorien seines einstigen Vorbilds und Förderers Sigmund Freud mit antijüdischen Verleumdungen verunglimpfte, als Freuds Bücher bereits auf den Scheiterhaufen der Nazis brannten.

Überhaupt zeigt die Ausstellung Jung mit seinem Hang zum Okkulten und zur Esoterik, zu verrätselten Bildern und sprachlosen Offenbarungen als klaren Antipoden zum Erfinder der Psychoanalyse Freud, der ein streng rationaler Denker und ausgesprochener Sprachmensch war. Das Verhältnis wie auch der Bruch zwischen den beiden sind nicht in ihrer ganzen Verwicklung dargestellt. Klar wird so viel: Nicht nur das stets zitierte Zerwürfnis über die Sexualtheorie, sondern auch Jungs Liebe zu Symbolen und kollektiven Archetypen – Animus/Anima, Held, Mutter, Ich/Schatten – sowie zur harmonischen Vereinigung von Gegensätzen entzweite ihn fundamental vom genialen Dialektiker Freud.

Jungs mit Exotismen angereicherte Tiefenpsychologie bot später viele Anknüpfungspunkte für die Seelenkunde light von Popkultur, Ratgeberliteratur, Persönlichkeitstests und dem grossen Reich der nonverbalen Therapien zwischen Malkuren und Mandalakreisen. Die Zürcher Ausstellung gibt auch interessante Hinweise auf Inspirationslinien zur Kunst der Dadaist:innen und zur Monte-Verità-Bewegung: Jungs Patient Otto Gross floh einst spektakulär über die Mauern der Zürcher Klinik Burghölzli zu den «wilden Therapien» in den Lufthütten oberhalb von Ascona.

Berühmte Patientinnen

Ausserhalb der direkten Bezüge zur jungschen Psychoanalyse setzt die Ausstellung mehrere pointierte Akzente. Etwa zur Geschichte von Gewalt, Zwang und der grausamen Zerstörung von Leben: in der Zeit vor der Erfindung der Psychoanalyse, aber eben auch danach, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die erwähnten Schriftstellerinnen Mariella Mehr und Annemarie Schwarzenbach wurden auf ganz unterschiedlichen Wegen zu Opfern von rücksichtslosen, teils kriminellen Behandlungsmethoden der Psychiatrie: Mehr als entrechtete Jenische, Schwarzenbach als lesbische Rebellin aus reicher, reaktionärer Familie.

Mit am eindrücklichsten sind die über die ganze Ausstellung verstreuten künstlerischen Auseinandersetzungen mit Psychiatrie und Psychoanalyse. Internationale Stars wie Louise Bourgeois, Meret Oppenheim und die Schweizer Häutungskünstlerin Heidi Bucher nehmen ironisch, pointiert und surrealistisch Bezug auf die männlich dominierte Psychoanalyse: mit verunglückten Begriffen wie dem «Penisneid», mit der Allmacht männlicher Ärzte und ihren Behandlungsmethoden. Diese Kunstwerke sind nicht zuletzt versteckte Hommagen an legendäre Patientinnen aus der psychoanalytischen Gründerzeit wie Berta Pappenheimer oder Sabina Spielrein, die ihren Analytikern Freud und Jung in vielerlei Hinsicht rasch und folgenreich über den Kopf wuchsen.

«Seelenlandschaften: C. G. Jung und die Entdeckung der Psyche in der Schweiz» in: Zürich Landesmuseum, bis 15. Februar 2026. www.landesmuseum.ch