Sachbuch: Von wegen «Grenzland»

Prozesse statt einzelner Ereignisse, Zusammenhänge anstelle grosser Namen: Einen solchen Ansatz versucht Yaroslav Hrytsaks soeben auf Deutsch erschienene Geschichte der Ukraine, um die Vergangenheit des angegriffenen Landes darzustellen. In weiten Bögen schildert der in Lwiw lehrende Historiker die Entwicklung der Ukraine von frühzeitlichen nomadisierenden Stämmen über die Anfänge der Rus bis in die Neuzeit.
Hrytsak rückt dabei die Ukraine in einen globalen Kontext, etwa wenn er die Entdeckung Amerikas mit der Herausbildung ukrainischer Kosakenheere oder die Reformation in Westeuropa mit der Nationenbildung in der Ukraine verknüpft. Dies bedingt manche Vereinfachungen, die aber nie zulasten der Präzision und der Verständlichkeit gehen. Hrytsak macht zudem deutlich, dass die Ukraine nicht das «Grenzland» an der Peripherie des russischen Imperiums ist, sondern vielmehr eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Welten.
Die sieben Kapitel des Buchs orientieren sich an wichtigen Phasen der Entstehung eines eigenständigen ukrainischen Staates. Ergänzt werden sie durch «Intermezzi», in denen in historischen Längsschnitten zentrale Aspekte herausgegriffen werden: Die Geschichte des ukrainischen Brotes etwa illustriert die Bedeutung der Landwirtschaft für die Entstehung einer eigenen Nation, die Geschichte der Gewalt erläutert die Zusammenhänge ukrainischer Freiheitskämpfe mit zaristischer und später sowjetischer Repression.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat immer wieder auch mit angeblich historisch fundierten Argumenten der Ukraine das Recht auf Staatlichkeit absprechen wollen, um damit seinen Angriffskrieg zu legitimieren. Gegen diese Propagandanarrative zeigt Hrytsak mit seiner auf die Ukraine fokussierten Perspektive eindrücklich auf, dass es sich durchaus um eine eigene Nation handelt – mit einer eigenen Geschichte und einem Recht auf Souveränität.