Wie imperialistisch ist Putins Russland?
Die ukrainische Gegenoffensive gilt als gescheitert. Ein Kriegsende ist nicht abzusehen. Die Regierung in Kyjiw befürchtet, die westliche Unterstützung könnte nachlassen. Sie beschwört deshalb einen „russischen Imperialismus“, der ganz Europa bedrohe. Ist ein solches Narrativ historisch berechtigt, falsch oder schief?
Die im Februar 2022 angegriffene Ukraine versteht ihren Kampf als Befreiungskrieg gegen die alte russische Hegemonialmacht, die ihre Einflusszone wieder ausweiten will. Der Geograf Michel Foucher hat den Konflikt als „Kolonialkrieg“1 bezeichnet; ganz auf dieser Linie qualifizierte der französische Präsident Emmanuel Macron die russische Aggression im Februar 2023 auf der Münchner Sicherheitskonferenz als „neokolonial und imperialistisch“.
Laut Macron offenbart diese Invasion den inhärenten Expansionsdrang Moskaus, das nur auf eine Gelegenheit gewartet habe, um verlorene Gebiete der ehemaligen UdSSR oder des Zarenreichs zurückzuerobern. Einige Experten gehen weiter und behaupten, Russland sehe sich als zivilisatorische Kraft, die im Namen „traditioneller Werte“ die Herrschaft über die ganze Welt anstrebe.2 Imperium, Imperialismus, Kolonialismus: Ein Schlagwort jagt das andere, ohne Klarheit in die Sache zu bringen. Will man das heutige Russland verstehen, muss man deshalb zuallererst die Begriffe ordnen.
Eines ist unstrittig: Ausgehend von einem Kernland, dem Fürstentum Moskau des 13. Jahrhunderts, hat sich Russland ein riesiges Territorium angeeignet, das alle Merkmale eines Imperiums aufweist.
Die Herrschaftsform des Imperiums ist – jenseits unterschiedlicher historischer Ausprägungen – durch einige Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Grundsätzlich beruht das System auf der Unterscheidung und hierarchischen Abstufung zwischen den verschiedenen Völkern und Territorien innerhalb des beherrschten Territoriums.3 Wesentliche Voraussetzung eines Imperiums ist also eine hochgradige kulturelle, ethnische, geografische und/oder administrative Ausdifferenzierung zwischen dem Zentrum und seinen Rändern.
Die zwei Gesichter des russischen Nationalismus
Besonders ausgeprägt ist diese Differenzierung bei den Kolonialreichen: In den geografisch vom Mutterland getrennten französischen oder britischen Kolonien in Asien und Afrika hatten die „Ureinwohner“ eine untergeordnete rechtliche Stellung; für die Verwaltung der Kolonialgebiete war eine gesonderte Bürokratie zuständig. Ausnahmen waren Algerien, das administrativ in drei französische Departements aufgeteilt war, und das ins Vereinigte Königreich integrierte Irland. Im Normalfall setzten die europäischen Imperien auf die Niederlassung von Siedlern aus dem Mutterland, die als moralisch überlegen galten – und daher als berechtigt, die autochthone Mehrheitsbevölkerung auszubeuten.
Wenn diese Differenzierung sich abschwächt oder ganz wegfällt, haben wir es nicht mehr mit einem Imperium zu tun, sondern mit einem Nationalstaat, der gewisse regionale Eigenheiten oder Formen des Föderalismus aufweisen kann. Auf diese Weise ging die nationale Konsolidierung in den Mutterländern der westeuropäischen Kolonialreiche vonstatten: So hat Frankreich die bretonische und baskische Bevölkerung „assimiliert“ (weniger erfolgreich die korsische). Und Spanien hat die Macht der Zentralregierung durch einen Föderalismus eingeschränkt, der allerdings nicht ganz gefestigt ist, wie die katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zeigt.
Mit anderen Worten: Während das jeweilige Mutterland seine Machtsphäre nach außen erweiterte, durchlief es selbst parallel dazu einen nationalen Einigungsprozess, auf jeweils eigene Weise. England zum Beispiel hat die Integration der britischen Inseln vorangetrieben und gleichzeitig seine territoriale und kommerzielle Expansion nach Nordamerika und später nach Asien und Afrika betrieben.
Das russische Imperium ist insofern ein besonderer Fall, als es bei seiner Expansion seine territoriale Kontinuität gewahrt hat. Aufgrund dieser Besonderheit nahm die russische Intelligenzija ihren Staat nicht als Imperium, geschweige denn als Kolonialreich wahr.4 Und das, obwohl das Zarenreich von der Ostsee bis nach Ostsibirien reichte und verschiedenste Völker und Kulturen unter einer Krone vereinte.
Die territoriale Expansion erfolgte schrittweise und oft unter Einbindung
der lokalen Eliten. Ein Beispiel ist das 1648 gegründete Kosaken-Hetmanat auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, das sich mit Moskau verbündete, bevor es seine Autonomie verlor.
Mit der wichtigen Ausnahme der jüdischen Bevölkerung, die nur im sogenannten „Ansiedlungsrayon“ im westlichen Teil des Russischen Reichs leben durfte, gab es für keine andere Volksgruppe einen subalternen, auf rassischen oder ethnischen Kriterien basierenden Rechtsstatus. Sehr wohl aber bildete sich eine Art bipolare Hierarchie heraus: auf der einen Seite die heidnischen (und später getauften) oder muslimischen, als „inorodtsy“ (gebietsfremd) bezeichneten Völker Sibiriens, des Kaukasus und Zentralasiens; auf der anderen Seite die im Westen unterworfenen slawischen (polnischen, ukrainischen, belarussischen) sowie die baltischen und deutsch-baltischen Volksgruppen.
Durch den Kontakt mit letzteren Gruppen erlangten die russischen Eliten ab dem 17. Jahrhundert und vor allem seit der von 1682 bis 1725 andauernden Herrschaft Peters des Großen Zugang zur europäischen Zivilisation. Mit anderen Worten: Die russischen Eliten wollten sich eher „selbst zivilisieren“, als den Menschen an der westlichen Peripherie des Reichs ihre eigene materielle und moralische Kultur aufzuzwingen.
Wenn im Fall Russland überhaupt eine Kolonisierung stattgefunden hat, so handelt es sich auch hier um eine Sonderform. Im offiziellen Sprachgebrauch war der Begriff „Kolonisten“ auf zwei Einwanderergruppen beschränkt: auf die Deutschen, die während der Amtszeit der Zarin Katharina II. (1762–1796) angeworben wurden, um mit ihrer protestantischen Arbeitsethik und ihren technischen Fertigkeiten das Land entlang der Wolga zu erschließen; und auf die ins Land geholten Serben und Griechen, die die Schwarzmeerregion besiedeln sollten, was zuweilen auf Kosten der ansässigen Russen und Ukrainer ging.
Die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern in Sibirien und im zentralasiatischen Turkestan begann im 19. Jahrhundert. Die Eroberung des Ostens erfolgte jedoch nicht mittels Kolonien, die territorial und administrativ vom Mutterland getrennt gewesen wären. Die Geschichte Russlands ist vielmehr „die Geschichte eines Landes, das sich selbst kolonisiert“, wie es der Historiker Wassili Kljutschewski (1841–1911) formulierte hat: „Der Raumgewinn dieser Kolonisierung ging mit der Expansion des Staates selbst einher.“
Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten russische Intellektuelle, unter dem Einfluss der Jakobiner und später der Dritten Französischen Republik, Konzepte für eine nationale Einigung. Gemeinsam war diesen Vordenkern – vom Dekabristen5 Pawel Pestel, der für eine egalitäre Republik eintrat, bis zu Peter Struve, der eine demokratische Verfassung anstrebte –, dass sie die Unterschiede und Hierarchien zwischen den Völkern nivellieren wollten.
Bei der Herausbildung eines „nationalen Herzens“ – ein aufgrund der kontinentalen Ausdehnung des Reiches nie vollendetes Projekt – sollten die Ukraine und Belarus mit ihrer vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung eine ganz bestimmte Rolle spielen. Nach der schrittweisen Aufteilung Polens zwischen Preußen, dem Habsburger- und dem Zarenreich (1772–1795) versuchte die russische Krone, diese beiden Bevölkerungsgruppen gegen den polnischen Adel aufzubringen. Damit verstärkte sie jedoch nur das polnische Nationalgefühl, das sich in den Aufständen von 1830 und 1863 artikulierte.
Aus Angst vor der Ausbreitung des „Polonismus“ setzte das zaristische Russland auf die Doktrin von der Vereinigung der orthodoxen Ostslawen zu einer „dreifaltigen“ russischen Nation von Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen (seit sowjetischen Zeiten in Russen, Ukrainer und Belarussen umbenannt).6 Zu Zeiten des Zarenreichs waren die „Kleinrussen“, wie der Historiker Alexei Miller anmerkt, „niemals aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert, sondern stets eingeladen, Teil der russischen Nation zu sein. Doch das Recht auf den Status einer eigenen Nation wurde ihnen versagt.“7
Vor diesem Hintergrund ist nicht plausibel, die Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen durch das Prisma des „Kolonialismus“ zu betrachten – jedenfalls, wenn man mit diesem Begriff zugleich die Politik der europäischen Kolonialmächte in ihren Überseegebieten beschreiben will.
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bestrebungen in Richtung einer eigenständigen ukrainischen Nation (Ukrainstvo) aufkamen, reagierte die Zentralgewalt mit einer Russifizierungspolitik nach dem französischen Assimilationsmodell: Ausrottung der Regionalsprachen mit dem Ziel, eine integrierte Volksgemeinschaft zu erschaffen. Zwischen 1863 und 1876 wurden Dekrete erlassen, die den Gebrauch des „Kleinrussischen“ einschränkten, das die zaristischen Behörden lediglich als volkstümliche, ländliche Variante der russischen Sprache betrachteten. Doch da die staatliche Infrastruktur insgesamt und speziell das Schulwesen unterentwickelt waren, blieb die sprachliche Russifizierung auf die Städte beschränkt. Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung sprach weiterhin Ukrainisch.
1917 brach das Russische Reich unter der Last des Krieges zusammen. Das schuf Raum für zahlreiche nationale Autonomiebestrebungen. In der Ukraine entstanden kurzlebige politische Gebilde wie die Ukrainische Volksrepublik und das Hetmanat unter Pawlo Skoropadskyj. Der Russische Bürgerkrieg (1917–1922) offenbarte außerdem die Spaltung der ukrainischen Nationalisten in mehrere Lager.
Zurück zum zaristischen Völkergefängnis?
Gestützt auf die Erfolge der Roten Armee, fand Lenin eine originelle Antwort auf die „nationale Frage“. Er bezeichnete das Zarenreich als „Völkergefängnis“, an dessen Stelle die UdSSR errichtet wurde: eine Föderation formal unabhängiger Republiken, wobei sich jede um einen nationalen Kern gruppierte, zugleich aber anderen Minderheiten kulturelle Rechte gewährte. Das bedeutete die prinzipielle Anerkennung von „Nationalitäten“ (ethnischen Zugehörigkeiten), die fortan bei den Volkszählungen und auf den Pässen der Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger registriert wurden.
In den 1920er Jahren förderte der junge Sowjetstaat die nationalen Kulturen wie auch die lokalen Sprachen und Eliten, wobei unter dem Etikett „Indigenisierung“ (Korenisazija) bereits eine Art positiver Diskriminierung betrieben wurde.8 Allerdings ging man davon aus, dass die sowjetische Identität die nationalen Zugehörigkeiten, die als Relikte der Vergangenheit galten, nach und nach überlagern und zurückdrängen würden. Das Projekt verlief relativ erfolgreich – insbesondere aus russischer Sicht, weil sich Russisch als Lingua franca in der UdSSR durchsetzte.
Die Ukraine zählte, zusammen mit Russland, Belarus und einer kurzlebigen Transkaukasischen Föderation9 zu den Gründungsmitgliedern des Sowjetstaates. Dabei kam der Ukraine dank ihres wirtschaftlichen Potenzials, ihrer strategischen Lage als Anrainer des Schwarzen Meeres und ihrer vielen gut ausgebildeten Kader innerhalb der UdSSR eine privilegierte Stellung zu, die jedoch eine Kehrseite hatte: Sämtliche Unabhängigkeitsbestrebungen wurden unterdrückt, zumal in Galizien, das seit 1919 zu Polen gehörte, in den 1930er Jahren ein radikaler ukrainischer Nationalismus entstand, der von den europaweit aufkommenden faschistischen Bewegungen beeinflusst war.
Aus Sicht Moskaus übte dieser Nationalismus eine gefährliche Anziehungskraft auf die sowjetische Ukraine aus, die unter der Kollektivierung und der Hungersnot von 1932/33 besonders stark gelitten hatte. Gleichwohl waren die Ukrainerinnen und Ukrainer in der Sowjetzeit offiziell als eigenständige Nation anerkannt – allerdings nur innerhalb der durch die Bande der „Brüderlichkeit“ mit dem russischen Volk gesetzten Grenzen.10
Erst im Rückblick wurde die Sowjetunion zum Imperium uminterpretiert.11 Während des Kalten Krieges sprachen nur wenige Historiker von einem „Sowjetreich“. Zu ihnen gehörte Richard Pipes, der russische Geschichte an der Harvard University lehrte, und als Ex-Berater von US-Präsident Ronald Reagan der antikommunistischen Diaspora aus Osteuropa nahestand.
Nach 1991 begann sich der Begriff durchzusetzen, unter anderem dank der viel beachteten Publikationen des Historikers Timothy Snyder („Bloodlands“, 2010) und der Journalistin Anne Applebaum. In der historischen Forschung vollzog sich eine Neubewertung der sowjetischen Ära durch das Prisma des Begriffs „Imperium“. Parallel zu diesem „Imperial Turn“ kam im politischen Diskurs die Vorstellung auf, das postsowjetische Russland sei auf erneute Aggressionen gegen seine Nachbarn programmiert.
Aus dieser politischen Sichtweise, die vor allem in Zentral- und Osteuropa vorherrschte, entsprang die Idee einer Eindämmungspolitik gegenüber Moskau, also der Ausweitung der Nato nach Osten, wiewohl Russland seit Auflösung der Sowjetunion bereits dramatisch geschwächt war.
Wladimir Putin wird nachgesagt, schon früh auf die Wiederherstellung des „sowjetischen Imperiums“ hingearbeitet zu haben. In diesem Zusammenhang wird oft auf den Aufsatz „Russland an der Schwelle zum dritten Jahrtausend“ verwiesen, den er im Dezember 1999 veröffentlicht hat. Darin stellt er einen Zusammenhang her zwischen der „politischen Spaltung der Gesellschaft“ und der geschwächten Macht des Landes.
Besonders heftig attackierte Putin in diesem Text die Idee einer „Revolution“ im Sinne umwälzender Veränderungen, die von „ideologisch“ inspirierten Minderheiten geplant würden. Dem setzte er ein konservatives Weltbild entgegen, das auf Werten wie Stabilität und nationaler Einheit beruhte, aber auch schrittweise Reformen vorsah – im Gegensatz zu der brutalen, „von außen“ oktroyierten Liberalisierungsstrategie, die das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht habe.
Im dem Text ging Putin auch auf das Thema Patriotismus ein: „Wenn dieses Gefühl frei von nationaler Überheblichkeit und imperialen Ambitionen ist, ist es nicht verwerflich. Für das Volk ist es eine Quelle des Mutes, der Beständigkeit und der Stärke.“ Unerwähnt ließ er den Tschetschenienkrieg, der einige Monate zuvor begonnen hatte. Doch Putins Vorstellung von einem „starken Staat“ schloss die Verteidigung der Souveränität und damit den unerbittlichen Kampf gegen jeglichen Sezessionismus ein.
Dennoch ist es anachronistisch und schlichtweg falsch, diesen Text als Ankündigung einer Mission zur Wiederherstellung der sowjetischen Grenzen zu lesen. In den 1990er Jahren herrschte in Moskau eher die Vorstellung, Russland und die Ukraine könnten eine neue Art von Bündnis nach dem Vorbild der russisch-belarussischen „Union“ von 1997 eingehen.
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass das Ende der UdSSR durch einen Akt der Selbstauflösung besiegelt wurde, der von den Präsidenten der drei slawischen Republiken Russland, Belarus und Ukraine unterzeichnet wurde. Dabei entsprach die Unabhängigkeit im Fall Belarus und Ukraine weniger dem Wunsch, eine „sowjetische Besatzung“ zu beenden – wie im Fall der baltischen Staaten –, als vielmehr dem Bestreben, die zwischenstaatlichen Beziehungen gleichberechtigter zu gestalten.
Am 8. Dezember 1991 unterzeichnete der erste Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, zusammen mit seinen russischen und belarussischen Kollegen Schuschkewitsch und Jelzin das Gründungsdokument der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Acht Tage zuvor hatten 90,32 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer in einem Referendum für die Unabhängigkeit ihres Landes gestimmt.
Gleichwohl betrachtet die russische Führung die Ukraine nach wie vor als Teil der „natürlichen“ Einflusssphäre Moskaus. Als Vorbild dient ihr dabei die Monroe-Doktrin, die den amerikanischen Kontinent als Interessensphäre der Vereinigten Staaten definierte. Legt man einen relativ platten Begriff von „imperialistischer“ Politik zugrunde, kann man ihn also durchaus im Fall Russland anwenden: als Anspruch einer regionalen Macht, auf ein bestimmtes geografisches Gebiet Einfluss auszuüben – sei es wirtschaftlich mittels „Partnerschaften“ (Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und ihre Nachfolgeorganisation Eurasische Wirtschaftsunion), sei es sicherheitspolitisch mittels der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).
In der Konkurrenz der Interessensphären befindet sich Russland gegenüber den USA und der EU in der Defensive, insofern diese ihre militärischen und wirtschaftlichen Strukturen – mittels Nato und EU-Assoziierungsabkommen – nach Osten ausweiten. Damit wurde der postsowjetische Raum zum Terrain konkurrierender Einflüsse und Einmischungsversuche. Die militärische Intervention war zwar zunächst kein zentrales Instrument des neuen russischen Staates, gehört aber zu seinem handwerklichen Arsenal – insbesondere in den abtrünnigen prorussischen Regionen Moldaus (Transnistrien) und Georgiens (Abchasien, Südossetien). Moskau will diese Regionen zwar nicht formell annektieren, aber weiterhin als Hebel benutzen, um politischen Druck auf Moldau und Georgien auszuüben.
Aus den genannten historischen Gründen bedeutete die Hinwendung der Ukraine nach Westen aus Sicht Moskaus das Überschreiten einer roten Linie. Ein böses Vorzeichen für eine größere Konfrontation war dabei die Polarisierung der politischen Landschaft in der Ukraine, da die Konfrontation zwischen prorussischen und prowestlichen Kräften rivalisierende Einmischungen aus dem Ausland begünstigte.
Der Bukarester Nato-Gipfel im Jahr 2008 stellte einen Wendepunkt dar. Das Abschlusskommuniqué enthielt die Zusage an die Ukraine (und Georgien), „Mitglieder der Nato zu werden“; allerdings verhinderten Paris und Berlin, dass das Land bereits den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhielt. Damit wurde die Ukraine vollends zum roten Tuch für Russland, ohne dass der Westen Kyjiw zusätzliche Sicherheitsgarantien gewährt hätte.
Dieses verwandelte strategische Umfeld hat erheblich zur nationalistischen Radikalisierung der russischen Staatsführung beigetragen.11 Bezeichnend ist dabei, dass sich Putin bei seinen Äußerungen über den sicherheitspolitischen Zankapfel – die Nato-Osterweiterung – immer stärker auf die Ukraine konzentrierte. Dabei setzte er die Emanzipation der Ukraine gleich mit der Zerstörung gewachsener nationaler Beziehungen; als einen Angriff auf Russlands „legitimes“ Recht auf Handlungsfreiheit in seinem angestammten regionalen Umfeld.
Russland hat seit 1991 enorm an Einfluss verloren. Seitdem beäugt man in Moskau den als omnipotent wahrgenommenen Gegenspieler USA mit großem Misstrauen und ist bemüht, den eigenen Einflussbereich gegen das Vordringen „des Westens“ zu verteidigen.12 Der Zusammenbruch der Sowjetunion war für einen Großteil der russischen Militärelite ein Schock: Gorbatschows Perestroika-Politik wurde in ihren Augen von Washington angezettelt. Das bestärkte sie in der Auffassung, man könne in der „neuen Welt“ beträchtliche strategische Gewinne erzielen, ohne auch nur eine einzige Rakete abzufeuern.
Die Ereignisse der 2000er Jahre bestätigten die Wirksamkeit indirekter Strategien – Informationskampagnen, die Kooptation ausländischer Funktionsträger und die Installation befreundeter Regime –, die der Anwendung roher Gewalt offenbar überlegen waren. Aus Sicht russischer Strategen hatten die „Farbrevolutionen“ in den ehemals sowjetischen Republiken Georgien, Kirgistan und in der Ukraine dieselben Wurzeln wie die späteren Umwälzungen des „Arabischen Frühlings“ in Nordafrika und im Nahen Osten: Man interpretierte sie als bewusste Strategie der USA, ein „kontrolliertes Chaos“ zu erzeugen, was dann auch zu Militärinterventionen wie im Irak (2003) oder in Libyen (2011) führen konnte.
Nach der russischen Doktrin war eine bewaffnete Auseinandersetzung möglichst zu vermeiden. Militärische Gewalt war nur als letztes Mittel vorgesehen, wenn indirekte Strategien versagen – dann aber in Form blitzschnellen, entschiedenen Zuschlagens.
Die Annexion der Krim im Jahr 2014 – durch Soldaten ohne Hoheitszeichen mit Unterstützung einheimischer politischer Kräfte – wurde als erfolgreiche Umsetzung der neuen Doktrin verbucht. Dieser taktische Erfolg bedeutete jedoch die Abkehr von dem strategischen Ziel, eine prorussische (oder zumindest „neutrale“) Ukraine zum Nachbarn zu haben. Zwar hatte sich Moskau damit die weitere Kontrolle über den russischen Marinestützpunkt Sewastopol gesichert, zugleich aber eine Ukraine geschaffen, die zwar flächenmäßig geschrumpft, aber noch entschlossener und dank westlicher Hilfe noch besser bewaffnet war als zuvor.
Auch der Einmarsch in der Ukraine vom 24. Februar 2022, dem Ultimaten an die USA und die Nato vorausgingen, war nur als punktuelle Militäraktion geplant. Ziel war der Sturz der Regierung in Kyjiw nach dem Vorbild der US-Attacken in Afghanistan gegen das Taliban-Regime (2001) und im Irak gegen Saddam Hussein (2003). Wobei man in Moskau vergaß, dass die Operationen der USA – des verhassten, dennoch oft kopierten Widersachers – in beiden Fällen letztlich scheiterten.
Putins Anordnung der „militärischen Spezialoperation“ gegen die Ukraine beruhte keineswegs auf einem ausgearbeiteten Plan territorialer Eroberungen, meint der französische Russland-Experte Dimitris Minic. Sie war vielmehr das Resultat einer „verunglückten Schlussfolgerung aus dem Scheitern der indirekten Strategie Russlands in der Ukraine“.
Der Krieg gegen die Ukraine hat zwar als „imperialistische“ Intervention begonnen, dann aber, als er ins Stocken geriet, seinen Charakter mehr und mehr verändert. Er wurde zu einem bewaffneten Konflikt, wie er typischerweise beim Zerfall von Vielvölkerstaaten auftritt. Dabei geht es vor allem um die Grenzziehung zwischen neu entstehenden Nationalstaaten, die sich im Fall der ehemaligen Sowjetunion zunächst auf deren Peripherie und insbesondere auf den Kaukasus beschränkt hatten.
Welche Kriegsziele Moskau in der Ukraine verfolgt, wurde im September 2022 deutlich, als vier teilweise okkupierte Regionen im Osten der Ukraine zu russischem Staatsgebiet erklärt wurden. Die Vorstellung dagegen, der Krieg gegen die Ukraine sei nur Auftakt zur Eroberung von Vilnius, Tallin oder Warschau, entbehrt jeder Logik. Moskau hat weder die Mittel, die Nato zu bedrohen, noch den Willen, ein neues Imperium zu errichten. Ziel ist vielmehr, das „nationale Herz“ neu zu definieren – und das nicht nur zulasten der Ukraine, sondern auch von Belarus, dessen Regime bereits weitgehend von Moskau abhängig ist. In diesem Sinne könnte man die derzeitige Phase des Konflikts als postimperial bezeichnen – oder noch präziser als nationalistischen Konflikt, der an die Konfrontation zwischen Serbien und Kroatien erinnert.
Unschlüssig in der Sprachenfrage
Während westlich der Frontlinie die Ukrainisierung vorangetrieben wird, schreitet entsprechend im Osten die Russifizierung voran. Die Ukrainisierung folgt dem klassischen Aufbauprozess eines Nationalstaats nach der Formel: ein Volk, eine Sprache, eine Zentralregierung.13 Dieser Prozess hat sich nach 2014 und erneut seit Februar 2022 weiter beschleunigt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs versucht die Regierung, die mit dem Moskauer Patriarchat verbundene Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UPZ) zu verbieten, was die 2018 gegründete autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine (PZU) begünstigen würde.
Nach der Umbenennung alter sowjetischer Toponyme wurden mittlerweile auch Bezeichnungen mit Russlandbezug für öffentliche Orte verboten. Diese „Entrussifizierung“ knüpft an die 2015 begonnene „Entkommunisierung“ an; Denkmäler von Feldherren und Künstlern, die einst als gemeinsames Erbe Russlands und der Ukraine galten, werden zerstört und russischsprachige Bücher aus öffentlichen Bibliotheken entfernt.
Die Russifizierung östlich der Donbass-Front ist nicht weniger eindeutig. In den von der russischen Armee kontrollierten Gebieten ist die Bevölkerung zur Annahme russischer Pässe verpflichtet, die russische Staatsbürokratie breitet sich aus, das russischsprachige Bildungssystem wurde übernommen, der Rubel ist die einzige Währung.
Vor Ort gehen die Meinungen über diesen Russifizierungsprozess jedoch auseinander. Die eine Seite will die Differenzierung zwischen Russen und Russischsprachigen aufheben, demnach wären alle Menschen mit Muttersprache Russisch „natürliche“ Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation. Die andere Seite kann sich vorstellen, dass die von Russland annektierten Gebiete (soweit unter Kontrolle Moskaus) ihre ukrainische Identität in einem sich weiterhin als „pluriethnisch und multikulturell“ definierenden Bundesstaat behalten können.
Das russische Bildungsministerium hat die Ausarbeitung eines Lehrbuchs für Ukrainisch angekündigt, das auf sowjetischen Vorläufern beruht. Es soll den Schülerinnen und Schülern in den vier annektierten Regionen ermöglichen, neben anderen „Muttersprachen“ – also den Sprachen nationaler Minderheiten – auch Ukrainisch zu lernen, wobei die obligatorische Unterrichtssprache Russisch ist.
Die Unschlüssigkeit in der Sprachenfrage spiegelt die zwei Gesichter des russischen Nationalismus wider, der seit seinem Aufkommen Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Polen hin und her schwankt: der Versuchung, einen Nationalstaat zu gründen, der die ethnische Mehrheit privilegiert, und dem imperialen Projekt, das die Dominanz über weiträumige Territorien und ethnisch wie kulturell diverse Volksgruppen anstrebt.
In Kyjiw, aber auch in bestimmten westlichen Kreisen herrscht dagegen die Auffassung, dass die Russische Föderation selbst einem Kolonialreich gleicht. Zum Beweis wird darauf verwiesen, dass die ethnischen Minderheiten in den unteren Rängen der russischen Armee überrepräsentiert sind. Deshalb schaut man aufmerksam auf die Regionen, die der Moskauer Militärführung dieses „Kanonenfutter“ liefern.
Zum Beispiel hat das ukrainische Parlament im Oktober 2022 die tschetschenische Exilregierung von Achmed Sakajew anerkannt, Tschetschenien zu einem „vorübergehend von Russland besetzten Gebiet“ erklärt und den „Völkermord an den Tschetschenen“ verurteilt, den Moskau in den 1990er Jahren begangen habe. In Brüssel tagte Anfang 2023 das „Forum Freier Völker Postrusslands“, in dem „nichtrussische“ ethnische Gruppen vertreten sind, die für die Unabhängigkeit von Randrepubliken der Russischen Föderation (wie Burjatien, Jakutien und Tatarstan) eintreten. Gastgeber war die rechtspopulistische ECR-Fraktion des Europäischen Parlaments.14
Osteuropa-Experten wie Edward Lucas vom Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington empfehlen den USA, „die Entkolonialisierung Russlands“ anzustreben. „Anstatt sich auf einen Regimewechsel oder die Persönlichkeit Wladimir Putins zu konzentrieren, sollten alle Länder, die mit Russland zu tun haben, dieses langfristige Ziel vor Augen haben.“15 Auf derselben Linie liegt der Historiker Alexander Etkind von der Central European University. Er räumt zwar ein, der Zerfall Russlands sei mit „enormen Problemen“ verbunden, und verweist auf alle möglichen Grenzkonflikte, aber auch auf das russische Atomwaffenarsenal.16 Dennoch befürwortet er dieses Szenario, das man nur als Balkanisierung plus Atomwaffen bezeichnen kann.
1 Michel Foucher, „Ukraine, une guerre coloniale en Europe “, Paris (L’Aube) 2022.
2 Claudio Sergio Ingerflom, „Le Domaine du Maître: l’État russe et sa mission mondiale“, Paris (Presses universitaires de France) 2023.
3 Siehe Jane Burbank und Frederick Cooper, „Was ist ein Imperium?“, LMd, Dezember 2011.
4 Marc Raeff, „Un empire comme les autres?“, Cahier du monde russe et soviétique, Paris, Bd. 30, Nr. 3–4, Juli–Dezember 1989, S. 321–327.
5 Als Dekabristenaufstand wird ein militärischer Putschversuch vom Dezember 1825 bezeichnet, mit dem Zar Nikolaus I. zur Einführung einer Verfassung gezwungen werden sollte. Der gescheiterte Aufstand mündete in schweren Repressionen.
6 Siehe Roman Szporluk, „Nationalism after Communism: Reflections on Russia, Ukraine, Belarus and Poland“, Nations and Nationalism, Cambridge, Bd. 4, Nr. 3, 1998, S. 301–320.
7 Alexei Miller, „National Identity in Ukraine: History and Politics“, Russia in Global Affairs, Moskau, Bd. 20, Nr. 3, 2022.
8 Terry Martin, „The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939“, Ithaca (Cornell University Press) 2001.
9 Diese Föderation wurde 1936 aufgelöst und durch die Sowjetrepubliken Georgien, Aserbaidschan und Armenien ersetzt.
10 Siehe Andreas Kappeler, „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, München (C. H. Beck) 2022.
11 Siehe Juliette Faure, „Wer sind die russischen Falken?“, LMd, April 2022.
12 Siehe Dimitri Minic, „Pensée et culture stratégiques russes. Du contournement de la lutte armée à la guerre en Ukraine“, Éditions de la Maison des sciences de l’homme, Paris, 2023.
13 Siehe Nikita Taranko Acosta, „Ukrainisch für Anfänger“, LMd, Mai 2019.
14 Bis Ende 2023 hat das Forum siebenmal getagt, jeweils auf Einladung rechtspopulistischer und EU-skeptischer Kreise.
15 Edward Lucas, „After Putin“, CEPA, Washington, 19. Juni 2022, https://cepa.org.
16 L’Express, Nr. 3755, 22-28 Juni 2023.
Jules Sergei Fediunin ist Politologe. Er forscht am Centre d’Études Sociologiques et Politiques Raymond Aron (CESPRA) der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).