Aarau: Gut integrierte Anarchie

Nr. 50 –

Linke Kreise in anderen Städten träumen davon, in Aarau ist es seit fünf Jahren Realität: das Zentrum für Anarchie. Zu verdanken ist das Wenzel Haller.

«Mich ärgerte die vorherrschende Meinung, dass alle Probleme der Welt gelöst wären, wenn überall Demokratie herrschen würde»: Wenzel Haller mit seinem «pensionierten, weiterlebenden Gefährt» vor dem Zentrum für Anarchie in der Aarauer Altstadt.

In Aarau gibt es sowohl ein Zentrum für Demokratie als auch ein Zentrum für Anarchie. Im Demokratiezentrum arbeiten Dutzende Politolog:innen mit einem Millionenbudget in einer Villa am Hang. Das Zentrum für Anarchie hat keine Angestellten – dafür eine Bibliothek mit anarchistischen Klassikern von Louise Michel bis David Graeber. Es befindet sich im obersten Stock eines Gewerbehauses am Rand der Altstadt. Der Briefkasten ist von Hand beschriftet.

Gegründet hat das Zentrum vor fünf Jahren Wenzel Haller, der Besitzer des Hauses. Ihm sei es darum gegangen, dem Demokratiezentrum «symbolisch etwas entgegenzusetzen». «Mich ärgerte die vorherrschende Meinung, dass alle Probleme der Welt gelöst wären, wenn überall Demokratie herrschen würde», erzählt er in der offenen «Sprechstunde» seiner «Anarchistischen Beratung». Jeden Dienstagnachmittag wartet er mit einem Buch in der Hand auf Gäste. Wenn mal keine kämen, enttäusche ihn das nicht. Sonst dient das Zentrum als Treffpunkt, vor allem für jüngere Anarchist:innen.

Haller selbst ist seit über fünfzig Jahren Anarchist. Der 69-Jährige wuchs im nahen Wynental in einer kommunistischen Aluminiumarbeiter:innenfamilie auf. In Aarau geblieben sei er dann aus Bequemlichkeit. Teile der Kleinstadtgesellschaft stossen sich bis heute verlässlich an seinen Projekten. Etwa am ausgehöhlten roten Auto, das da seit den nuller Jahren vor dem Gewerbehaus steht. Das Schrottfahrzeug hat eine schicke Plakette. Darauf heisst es, dieses Werk, der «Saab 900», sei ein «pensioniertes, weiterlebendes Gefährt» auf Privatgrund, das wegen der Vorschriften «alle zwei bis drei Monate um eine kurze Strecke bewegt wird». Das Chassis ist mit Erde gefüllt, noch im November überwuchern Pflanzen das rote Metall. Die «Aargauer Zeitung» transportierte schon die Wut über den «Schrott», der «angeblich Kunst ist»; auch die Altstadtkommission stört sich daran. Doch gleichzeitig ist das Fahrgestell prominent im Kulturkonzept der Stadt abgedruckt. Haller hat den Saab hier ursprünglich platziert, weil er so einen Parkplatz vor seinem Haus verhindern kann.

Genug vom ständigen Umziehen

Anarchie bedeutet für Haller, dass sämtliche Machtverhältnisse abgeschafft werden sollen und alles allen gehört. «Aber ich bin auch ein pragmatischer Mensch.» Ihm sei klar, dass kein Dasein ausserhalb der Gesellschaft möglich sei. «Jede Kritik kann das System stützen, tragen und dazu führen, dass das Kapital noch mehr verdient.» Dass er mittlerweile einige Immobilien in Aarau besitzt, sei natürlich ein Zugeständnis. «Doch sie gehören lieber mir als Idioten», sagt Haller. Das erste Haus kaufte er in den neunziger Jahren zusammen mit einer Freundin und einem Startkapital von wenigen Zehntausend Franken. Nach zwei Jahrzehnten Engagement in linken Läden, Projekten und Treffpunkten hätten sie vom ständigen Umziehen genug gehabt. «Überall hiess es: Ciao zusammen!» Ums Geld gegangen sei es ihm dabei nie, bis heute baue er Schulden ab. Er gilt als fairer Vermieter.

Wie oft Alternativprojekte und Freiräume in und um Aarau umziehen mussten, ist im kürzlich vom Kollektiv Aargrau herausgegebenen Buch «Kleinstadtrebellion» dokumentiert. Eingangs erzählt der Krimiautor Wolfgang Bortlik vom Zusammentreffen mit Haller im Gymnasium: «Ab da nahm alles seinen Lauf.» Ein paar Seiten weiter findet sich ein Foto der beiden, die bis heute befreundet sind, aus den siebziger Jahren. Hallers Blick ist offen wie damals, sein Gesicht war schon in seiner Jugend wettergegerbt. Wahrscheinlich waren seine Haare damals noch nicht schlohweiss – doch das lässt sich auf dem Schwarzweissfoto bloss erahnen. Als Einziger, der die Anfänge der alternativen Bewegungsgeschichte in den siebziger Jahren miterlebte, taucht Haller auch am Ende von «Kleinstadtrebellion» auf. Dort kommt er eher schlecht weg: Die nonbinäre Person «Theo_a» schildert, wie ihre junge anarchistische Gruppe bald nach der Gründung des Zentrums für Anarchie Konflikte mit Haller hatte, unter anderem wegen liegen gelassener Bierdosen und dem Wunsch, die Wände zu bemalen. Der Besuch im Zentrum sei «wie ein Picknick im Wald», bei dem man alles, was man mitbringe, beim Gehen wieder mitnehme, habe Haller der Gruppe gesagt. Das war wohl nicht der autonome Freiraum, auf den die Gruppe, die heute anscheinend nicht mehr aktiv ist, hoffte.

«Was wäre, wenn»-Szenarien

Konfliktfrei arbeitet das Anarchiezentrum dafür ausgerechnet mit dem Zentrum für Demokratie, über dessen Existenz sich Haller heute auch nicht mehr ärgert. Die ungleichen Institutionen organisieren seit mehr als zwei Jahren eine Diskussionsreihe zum Thema «Losen statt wählen». «Eine Losdemokratie hat mit Anarchismus wenig zu tun», findet Haller. Doch das Thema begeistert ihn wie sonst nur anarchistische Klassiker. Die Frage nach dem Los bringe auch jene dazu, in «Was wäre, wenn»-Szenarien zu denken, die es sonst nie täten. Erst das Hinterfragen des Systems mache grundsätzliche Veränderung möglich.

An der ersten «Losen statt wählen»-Veranstaltung, am Dienstagabend vor den nationalen Wahlen im November 2019, füllten etwa fünfzig Menschen das Anarchiezentrum. Der Rotwein floss reichlich in die Plastikbecher. Das Los entschied, wer als Nächstes etwas sagte und wer wem antwortete – bis alle etwas gesagt hatten: Punks, gewählte Politiker:innen, der Journalist der «Aargauer Zeitung». Die zügellose Stimmung erinnerte an die erste Vollversammlung nach einer Besetzung.

Die jüngste Veranstaltung zu «Losen statt wählen» fand Anfang November in der Villa am Hang statt, im Zentrum für Demokratie. Per Los ausgewählte Einwohner:innen von Aarau diskutierten die Frage, ob das Los Wahlen ersetzen könnte und, wenn ja, wie die Losdemokratie ausgestaltet sein solle. Die Stimmung war weniger ausgelassen als vor zwei Jahren, doch die Teilnehmer:innen – im Auftreten eher bürgerlich – hinterfragten die Verhältnisse tatsächlich. Die vier Frauen und vier Männer auf dem Podium waren sich einig: Wegen der Parteien werde der Wechsel zur Losdemokratie nicht gelingen, denn Parteien hätten wegen der Mandatsabgaben der Gewählten auch ein finanzielles Interesse am jetzigen System. Haller freute sich von seinem Platz im Publikum aus.

Weitere Informationen zur Kooperation zwischen ZDA und ZAA finden sich auf www.losen-statt-waehlen.ch.

«Kleinstadtrebellion»

Das vom Kollektiv Aargrau herausgegebene Buch «Kleinstadtrebellion» bündelt Erinnerungen von Protagonist:innen des linksautonomen Aarau von 1974 bis 2019. Obwohl es aus dem legendären Zeitungsprojekt «Alpenzeiger» zitiert und trotz eindrücklicher Schilderung der Besetzung der Elcalor-Fabrik setzt es keine Denkmäler, sondern ist eine Art Lokalchronik der widerständigen Linken. Gerade weil man diese Traditionslinien dem pittoresken Aarau kaum anmerkt, hat der Band besonderen Wert.

Infoportal Aargrau (Hrsg.): «Kleinstadtrebellion». Aargau 2021. 256 Seiten. Kein fester Verkaufspreis. Bestellbar via E-Mail unter info@aargrau.ch.