besetzungen sind Notwehr: Abracadabra, la casa se abra

Abseits der Medien gibt es sie noch immer: die BesetzerInnenszene. Allerdings neu auch am Zürichberg, im Internet und in Zürichs Trend-Quartier Züri West.

Abracadabra, la casa se abra – und die Tür stand offen. Schon seit längerer Zeit wurde über das «neue Teil» gemunkelt. Ein Haus sollte besetzt werden, aber nicht, um drin zu wohnen, sondern für unberührten Neuraum. Irgendwo gabs Vorbereitungssitzungen, aber erst kurz vor dem Tag Y flogen die Flyer von Hand zu Hand und die News von Ohr zu Ohr: Donnerstag, halb neun, Escher-Wyss-Platz.
Der Glacegarten im untersten Stock des Riegelhauses hatte noch vor kurzem als Treff nostalgischer Gelati-EsserInnen und als Kantine von Tele 24 gedient. Dann erhielten die MieterInnen des gesamten Steinfelsareals die Kündigung. Die Kreativen gingen, das Areal stand leer. Doch nicht zu lange.
Am 7. Oktober trafen sich etwa 200 Leute am Escher-Wyss-Platz, um gleich beim Cinemax ein Stück Züri West zurückzunehmen.
Alles strömte in das ziemlich neu renovierte dreistöckige Riegelhaus. Die Villa der ehemaligen Besitzerfamilie Steinfels gleich nebenan ist noch schöner und steht auch leer. Für Konzerte wäre sie aber weniger geeignet als der ebenerdige Glacegarten mit Säulen und Fensterwand.
Alles war organisiert: Der Generator wurde in Gang gesetzt, die Kerzen wurden angezündet, die Bar aufgestellt und die Harasse reingeschleppt. Während dies sehr rasch vor sich ging, liessen sich die oberen Räume bedächtig begutachten. Die Stimmung im Treppenhaus lag zwischen Besichtigungstermin mit der Verwaltung und einer Vernissage: Plauderplauder – ah, so ein Zimmer mit hölzerner Terasse habe ich mir schon immer gewünscht – Hol, au da? usw. Das Objekt ist intakt – nur die ausgerissenen WCs glotzen neben ihrem Rohr stinkend in die Luft.

Alle da

«Psycho-Clan, Psycho-Clan, Psycho-Clan, chömed zäme», sangs schon bald aus den Boxen und erfreute eine Zusammenkunft, dies bisher selten gab: BesetzerInnen- und Nahestehende-Szene trifft sich mit der Welt der HipHop-LiebhaberInnen. Zuerst spielten Anker guten alten Punk, um gleich nach ihrem Auftritt zuvorderst den MCs beim Freestyle zuzujubeln. «So durchmischt sollten Partys immer sein», schrie mir die Gitarristin von Anker begeistert ins Ohr. Auch die Blicke der HipHop-Seite, die dem Punk zuerst wenig optimistisch begegneten, weichten sich bald auf. «No sleep till Zuriiich!»
Aus dem ersten Glacegarten-Flugi: «Junges Unternehmen gründet auf bunten Untergründen … Für Hausmännchen und Frauen, die es wirklich wissen wollen. Denn der Volksmund weiss: Besetzungen nehmen sinngemäss Entwicklungen voraus, wovon gestandene Semester schon mal, aber doch nicht zu träumen wagten … Mut zur Zumutung ist Mut zum Aufbruch ist Mut zu Ufer uralt. Jungsein heisst wieder was.»

Ja warum?

Zu diesem Artikel wurde ich animiert, da es angeblich keine autonomen Räume mehr geben soll – keine besetzten Häuser. Wussten denn nach der Wohlgroth nur ein paar Hausbesitz- beziehungsweise -setzerInnen, dass diese Lebensart nicht einfach verschwunden ist?
Wunderschönes Haus aus der Jahrhundertwende am Züriberg. Es muss früher ein regelrechtes Festpavillon zur nicht mehr existierenden Villa gewesen sein: Das einladende Wohnzimmer mit Terrasse und der Wintergarten inspirieren zu allerlei Freuden – aber nicht zu allen, denn es hat keine entsprechenden Schlafzimmer. Dafür stehen Wohnwagen und Zelte im verwilderten Garten.
Soeben haben wir die Spaghetti mit Tomaten- und Pilzsauce fertig gegessen – am Boden vor der Fensterfront mit Aussicht zum Sonnenuntergang über der schattigeren Seite der Stadt. Wenn es nicht regnen würde.
Nach der Wohlgroth-Räumung im Spätherbst 1993 sind viele der rund hundert BesetzerInnen zu gewöhnlicheren Wohnformen zurückgekehrt. «Es gab nicht einfach Ersatz für alle», erklärt Peter (31), der drei Jahre lang besetzt hat. Aber Zürich ist seither nie ohne besetzte Häuser ausgekommen, nur waren sie nicht so bekannt wie die Wohlgroth. Ob das nur mit der Lage und der Grösse zu tun hat? Peter: «Nicht ausschliesslich. Viele Leute nehmen nicht wahr, was um sie herum passiert, und das hat ja nicht unbedingt damit zu tun, dass die Leute, die besetzen, etwas falsch machen. Die Leute von der Rosengartenstrasse zum Beispiel (Haus, das kurz nach der Wohlgroth-Räumung besetzt wurde), die sind zur WoZ gegangen und haben gesagt, wir haben etwas zu erzählen, und sie wurden wieder nach Hause geschickt.»

Schellack-Choice

Bitte wähle ein lautes Stück Musik nach deinem Geschmack aus dem ersten Wochenprogramm des Glacegartens: anker, nie samurai, nic rooki, jurczok 1001, geometric equipment, psycho-clan, fingerpoke, phil duke; dub, ragga, drum’n'bass ab Konserve; eine Lesung oder die ministranten, jungle, elektronische Tanzmusik, robotnicka, divide&conquer, metal disko, kurt, bocachiuso, end this scene, kurzfilm -kino, offene Plattennadel – manchmal läuft auch radio, dancehall, discodoom, gabardine, schellack disko und kunst, grr, hacke-peter, mikry3, viel-leicht sogar von dir und Bar und Babybar und der Garten das Steinfelsareal wird Arche Noah ..

Das Haus

Elias E (22): «Ein besetztes Haus wird normalerweise als Ganzes besetzt. Im Idealfall gehört ein Garten dazu und ein Estrich und ein Keller … »
Peter: «… eine Dachterrasse … »
Glovanni (25): «… und ein guter Keller zum Konzertemachen.»
Elias F.: «Klar gibt es manchmal die Möglichkeit, dass eine Gruppe ein ganzes Haus mieten kann. Aber dann kommt der finanzielle Aspekt. Ich habe keinen Bock zu arbeiten, um tausend Franken zusammenzuscheffeln, damit ich wohnen kann. Denn die Zeit, die ich fürs Geld arbeiten muss, die fehlt dann genau wieder beim Zusammenwohnen und beim Haus.»
Isidora (26): «Ich wollte mit mehr als zehn Leuten zusammenwohnen und einen Ort haben, wo wir den Power entwickeln können, um etwas zusammen zu machen, politisch, sozial, kulturell … Ich hatte auch Zeit, denn es braucht schon Zeit für das Besetzen>
Giovanni: «Ich wollte nicht mehr so geregelt leben. Es geht um die Freiheit, dass ich dort sein kann, wo ich will. »
Isidora: «Ich wollte auch, dass wieder etwas läuft. Ob in meinem Leben oder auf der Strasse. Es war so eine depressive Stimmung. Die wollte ich durchbrechen – was kannst du Besseres tun als besetzen?»

Verständnis

«Ja, wisst ihr, ich bin auch das eine oder andere Mal in der Wohlgroth gewesen», erzählte der Verwalter des Steinfelsareals anlässlich seines ersten Besuches. Auch die Käuferin der Gamperstrasse 9 ist offen für alternative Wohnformen:
Ellas E: «Wir hatten uns für die Gamperstrasse entschieden, weil die Besitzerin die SBB war, das Haus im Kreis 4 steht und gross ist. Die Bullen haben ein erstes Mal geräumt, illegal. Man ist wieder rein und hat versucht Kontakt aufzunehmen. Nach langem Hin und Her ist schliesslich ein Gebrauchsleihvertrag ausgehandelt worden. Der von der SBB, der Beauftragte für den Verkauf, fand das Ganze spannend. Für ihn war es wie ein Projektli, so etwas mal durchzuführen. Und von oben kam wahrscheinlich: ‘ja, ja, wenn es nichts kostet, dann schadet es nichts …’»
Dann sind die KaufinteressentInnen gekommen. Der späteren Käuferin wurde ein frisch gedrucktes Flugi gegen Rassismus in die Hand gedrückt. «Und dann hat sie gesagt: Ah, sie kenne das. Nur weil sie den Satz: ‘Schweigen heisst einverstanden sein’ schon einmal gehört hat. Sie hat über den Vermittler gesagt, dass sie es gut findet, was wir machen», erzählt Isidora.
Die BesetzerInnen in ihrem Kaufobjekt wollte sie aber doch lieber nicht persönlich treffen, nachdem sie an keinem der zwei ursprünglich abgemachten Termine erschienen war. Sie sagte, als alter 68erin hätte es ihr das Herz gebrochen …

Unverständnis

Besetzen ist ein Antragsdelikt. Das heisst, wer das Haus besitzt, entscheidet, ob geräumt wird. Manchmal räumt die Polizei aber auch illegal auf eigene Faust, wie dies nach der ersten Besetzung der Gamperstrasse 9 im letzten Winter geschehen ist. Aus diesem Grund suchen BesetzerInnen manchmal sogar Kontakt mit politischen Instanzen, damit sich die Polizei nicht verselbständigt.

Raum & Zeit

Koni Rocker (23): «Unsere Kultur ist Non-Kommerz. Und um diese zu verwirklichen, brauchen wir Raum und Zeit. Beides ist aber immer mehr das Privileg der Reichen. Durchs Besetzen nehmen wir uns, worauf eigentlich alle ein Recht haben sollten: freie Zeit und freien Raum. Nur so kann Neues entstehen, denn auf einmal hat es Platz für Ideen. Die Fantasie ist der Motor, nicht das Geld.»

Peter: «Es ist eigentlich egal, wer Bullenvorsteher ist oder Bullenvorsteherin. Mit dem Wechsel zur Rot-Grün-Regierung hat es schon Änderungen gegeben, in dem Sinne, dass nicht mehr auf Vorrat (ohne Bau- und Abbruchbewilligung) geräumt wird – zumindest als verbales Versprechen. Ein bürgerlicher Politiker sagt nie: Ich räume nicht auf Vorrat – aber er macht es nicht unbedingt. Während es jetzt umgekehrt ist: Sie sagen, dass sie es nicht machen, machen es aber öfter.»
Isidora: «Es ist so eine grosse Gehirnwäsche da, seit der Erziehung, dass man gar nicht daran denkt, dass etwas mir gehören könnte, wenn ich kein Geld habe.»

Hausfriedensbruch

Auszug aus der Prozesserklärung bezüglich Anklage wegen. Hausfriedensbruch Kasernenstrasse im März 1999: «Wer ein Haus besitzt, darf dieses leer stehen lassen oder zerstören, wenn es ihm passt. Von wem wird der Hausfrieden gebrochen? Vom Besitzer, der das Haus zerstört und verrotten lässt, oder von der Besetzerin, die es flickt und bewohnt? … Besetzungen sind deshalb Notwehr gegen den illegitimen Anspruch eines Eigentümers, ’sein’ Gut nicht zu nutzen oder zu zerstören.»

Wird es angestrebt, einen Vertrag mit dem Besitzer des Hauses zu schliessen?
Peter: «Die Frage ist, von wem ein Vertrag angestrebt wird. Von BesetzerInnenseite her kann man zum heutigen Zeitpunkt glaube ich ja sagen, weil es eng ist. Von der staatlichen Seite her auch, weil sie so die Kontrolle haben. Die BesitzerInnen wollen den Vertrag eher nicht, weil dann auch sie Verpflichtungen eingehen müssen.
Andererseits kann ein Besitzer erst dann, wenn ein Vertrag besteht, etwas fordern. Denn grundsätzlich muss der Besitzer Strom, Gas, Wasser bezahlen. Und das kann er den MieterInnen ja nur weiterverrechnen, wenn er welche hat!»
Koni Rocker: «Wenn du einen Vertrag hast, passieren weniger Sachen, wie bei der Kasernenstrasse, wo sie ohne Vorwarnung geräumt haben. Mit einem Vertrag bist du auf einer Verhandlungsebene mit dem Besitzer. »
Ist ein Haus mit Vertrag überhaupt ein besetztes Haus?
Ellas F.: «Es hängt vom Vertrag ab. Es gibt Verträge, die die Auszugsformalitäten regeln, die festlegen, dass du nichts umbauen darfst ete. Es gibt aber auch Verträge, die nur regeln, dass du Wasser und Strom bezahlst. Das lässt sich unter Umständen auch als Besetzer vertreten. Wenn die nicht bezahlt werden müssen, werden sie oft auf krasse Art und Weise verschwendet.»
Giovanni (ironisch): «Die Coolsten sind aber schon die, die gar nichts bezahlen.»
Peter: «Die vollendete Besetzung ist selbstverständlich die ohne Vertrag, bei der niemand dreinredet und das Haus auch so aussieht, wie du es willst … »
Elias F: «… und das militant verteidigt wird … »
Peter: «Genau, und am Schluss eine krasse Räumung! Sonst war es kein besetztes Haus!! »
(Gelächter.)
Sorry, Peter. Seit langem ist kein Haus mehr militant verteidigt worden. Der Hauptgrund ist die Schonung der Vermittlungsinstanz, die für den Vertrag ihren Namen gibt und verantwortlich gemacht würde.

Der siebte Tag

Der siebte Tag im Glacegarten, und es wird noch nicht geruht. Neue Räume sind entstanden, über der Bar hängen voodoomässig Hühnerfüsse. Der Verwalter ist am zweiten Tag vorbeigekommen und hat den Abbruchplan gezeigt am 25. Oktober soll das gesamte Steinfelsareal abgebrochen werden. Solange es keine Reklamationen aus der Nachbarschaft gebe, gehe es in Ordnung, dass das ehemalige Glacegartenhaus belebt bleibt. «Klirr! Schepper! Klirr!», machen die Fensterscheiben der restlichen Häuser auf dem Areal. Die Arbeiter haben heute Morgen den Auftrag bekommen, die Häuser unbewohnbar zu machen.
Glovanni: «Viele Leute besetzen aus politischen Gründen. Es gibt auch Leute, die etwas Billiges zum Wohnen suchen, weil sie sonst nicht durchkommen, Ich schaue, dass ich durchs Leben komme, ohne gross zu arbeiten. Ich arbeite nicht gerne!»
Elias F.: «Jeeh!»
Isidora: «Da kommt die Frage auf, was unter Arbeiten verstanden wird. Auch aus finanziellen Gründen zu besetzen, kann politisch sein.»
Giovanni: «Ich bin ja nicht unpolitisch.»
Peter: «Es gibt auch Leute, die besetzen wegen dem Lebensgefühl, weil es lässig ist, mit mehreren Leuten zusammenzuwohnen.»
Elias F.: «Jeder Mensch tut etwas. Es fragt sich einfach: Lohnarbeit oder nicht.»
Koni Rocker: «Du musst Möglichkeiten finden, wie du überleben kannst, ohne für einen Lohn zu arbeiten.»
Peter: «Es gibt Läden oder Marktstände, von denen man ganz genau weiss, dass man am Samstag um vier dorthin gehen kann, um Essen zu holen.»
Isidora: «Wir leben zu einem grossen Teil vom Überschuss der Wohlstandsgesellschaft.»

Info LoRa, 13. Oktober

Es folgt eine Nachricht aus dem Besetzerkuchen. «Eine sehr wichtige Mitteilung: Wie jeden Abend ist auch heute Vokü im Steinfelsareal an der Heinrichstrasse 257. Nur dass wir noch nicht sehr viel Gemüse für die Spaghetti-Sauce haben und auch noch keinen Salat. Also: Alle solidarischen Häuser in der Stadt Zürich, alle besetzten Häuser und alle sonstigen Leute: Bitte bringt Gemüse und Salat vorbei. Und ein Kilo Spaghetti wäre auch nicht schlecht. Und noch eine wichtige Mitteilung: Alle Leute sind aufgefordert, Platten mitzunehmen, denn heute ist offene Plattennadel.»
Der Aufruf hat gewirkt: Peter brachte ein Kilo Spaghetti mit.

Kultur politisch

Peter: «Die Art, wie die Wohlgroth bemalt war, und diese Art von Kultur, die dort drin gemacht wurde, die findet heute zum Teil anderswo statt. 68 musstest du dafür kämpfen, dass du auf einem Rasen liegen darfst. 80 war füdliblutt durch die Stadt rennen ein riesiges Pohtikum. Aber heute kannst du im oberen Letten deine Tatoos berumzeigen. Und an den Strassenfesten finden dieselben Konzerte wie an Sauvagen (wilde, einnächtige Besetzungspartys) statt. Es gibt die Street Parade, die der Mega-Event ist, und zwar geldmässig. Es ist ein riesiges Kommerzding, wo auch alle blutt herumrennen, lässig drauf sind, eine Pille schmeissen.
Das alles hat sich gewandelt, und darin leben wir, das ist real. So werden wir auch an den Rand gedrängt. Unsere Kultur wird entweder marginalisiert oder sonst kommerzialisiert und vereinnahmt.»
Isidora: «Unserer Kultur ist auch mit politischen Sachen verbunden. Es wird aber immer nur der kulturelle Teil in den Kommerz abgezügelt.»

NZZ, 3.11.99

Unter dem Titel «Vom Protest zum Produkt» schrieb die NZZ über die Wohlgroth als Erfahrungsgrundlage von ‘neuen’ Jungunternehmern»: über das Bier «Turbinenbräu, die Boutique «Saus und Braus» und die Badeanstalt Enge. Diese Produkte seine in Teamarbeit hergestellt, seien verankert im unmittelbaren städtischen Umfeld und hätten Auswirkungen auf dieses und als Ziel dennoch «wirtschaftlichen Erfolg. «Wohlgroths späte, unrevolutionäre Früchte eben», schrieb das Blatt erfreut.
Meine Damen und Herren, wir treffen in Zürich ein. Ich steige aus, gehe links aus dem Bahnhof raus, den Gleisen entlang. Rechts, Block zur ehemaligen Wohlgroth, weiter: Zahnlücke, wo vorher Würstlistand, Nachtclub und viele billige Wohnungen standen. Das grosse Haus, das bald an dieser Ecke Zoll- und Langstrasse wachsen wird, soll «The Docks» heissen. Anlehnung an die Londoner Docklands, die nach tüchtiger Säuberung zu den Yuppie-Lands wurden? Weiter, links: Neuer Glasblock der Sozialversicherungsanstalt, gleich anschliessend farbige Wohnblöcke noch im Bau – alles den Geleisen entlang, wo früher die Züri-Bronx brachlag.
Trendy, trendy – Kreis 5 kommt dem Feeling der berühmten Weltstadtquartiere am nächsten, wohin alle so gern fliegen: pulsierendes Leben und so multikulturell … Und jetzt, wo die Ordnung wiederhergestellt scheint – genau der richtige Stimmungsmix, um Wohnungen mit Stil zu bauen.
Die vielen, bunten, wirtschaftsstandortlich optimalen Projekte in dieser Stadt mit so hoher Lebensqualität, verdrängen aber billige Wohnungen und damit genau auch die Menschen, die dem Kreis 5 das «multikulturelle» Grossstadt-Flair verleihen. Sogar besetzen tuts sich jetzt leichter am Züriberg – Elias F.: «Herrlich, siehst du nicht, wie sonnengebräunt wir sind?»
Koni Rocker: «Wir wohnen, ohne zu arbeiten, am Züriberg!»

Genauso Games

Peter: «Es gibt in besetzten Häusern genauso gruusige Games: Leute, die herausfliegen, und es besser einen Vertrag gegeben hätte, damit das nicht passieren kann. Aber: In einem besetzten Haus musst du lernen. Du musst, du bist gezwungen. Du kannst nicht auf den Abwart böse sein; du kannst nicht vors Mietgericht und gegen den Besitzer prozessieren>
Koni Rocker: «Du kannst auch nicht deinen Eltern die Schuld geben.»
Peter: «Vielleicht bist du plötzlich selber schuld und musst dir dazu etwas überlegen>

Toleranz

Koni Rocker: «Oft gehen die Bullen zu den Besitzern und sagen: Sollen wir räumen? Sollen wir räumen? Und dann, wenn sie dürfen, nehmen sie ein Näschen Kokain und fühlen sich wie Miami Vice. Sie kommen mit geladenen Pistolen und Anti-Demo-Montur. Die haben kein Gefühl für Verhältnismässigkeit. Seit Jahren wurde kein Haus mehr militant verteidigt, trotzdem kommen sie wie im Krieg. »
Peter: «Wenn wir die Häuser, die Art der Räumungen, das Vorgehen der Polizei und der Besitzer in den letzten Jahren in Zürich skizzieren würden, gäbe es eine hübsche Liste, und das Ergebnis wäre: Es gibt keine Logik. Es gibt vielleicht eine Politik an und für sich, aber die ist abhängig von x Faktoren. Du hast keine Möglichkeit, im Vorfeld zu wissen, was passiert. Es gab für längere Zeit die Konradstrasse 19, die Konradstrasse 21, die Ambiance, die Wohlgroth oder die Kasernenstrasse ein halbes Jahr lang – eigentlich alles klassische Objekte zum sofortigen Räumen. Und wer würde erwarten, dass am Züriberg eine Villa toleriert wird?»
Ellas F.: «Wenn die Besitzerin eine Verwaltung, eine Bürokratie ist, wo niemand wirklich zuständig ist, aber alles seine Ordnung haben muss, dann wird es eher komphziert. Es ist unberechenbarer, als wenn du den Besitzer persönlich kennst. Natürlich gibt es auch da den umgekehrten Fall.»
Peter: «Zum Beispiel Miheuhäuser – die besser nicht berühren. An der Luisenstrasse war ein Haus kurz besetzt, bis der andere mit der Knarre vorgefahren ist … »

Wieso nicht?

«Hüser bsetze uf jedä Fall, es isch ä geili Sach, aber ich chans nöd», dichtete einer im Glacegarten. Und ich weiss, was er meint.
Manchmal möchte ich am liebsten meine ganzen Bücher wegschmeissen, die Plattensammlung verschenken, künden, exmatrikulieren – allen Ballast loswerden und mich einfach nur frei bewegen. Andererseits hasse ich es, zu zügeln, und finde es angenehm, nur zu dritt in einer Wohnung zu leben; ich muss meiner Grossmutter keine Geschichten erzählen und auch der Polizei nicht. Besetzen ist ein Vollzeitjob, und die mag ich nicht. Zu besetzen braucht auch Mut. Und man muss mit heftigen Reaktionen seitens Staat und Besitz rechnen: Anzeigen wegen Hausfriedensbruch, Personenkontrolle, Räumung, Prozesse… Wer ist frei?
Peter: «Häuserbesetzen ist, abgesehen davon, dass es lässig ist und man viel lernt, auch anstrengend.»
Koni Rocker: «Du kannst auch Ärger bekommen, genug Ärger, und dafür sogar wochenlang in den Knast wandern; zumindest wenn du wiederholt besetzt.»
Giovanni: «Aber es ist auch geil: Du musst rambazamba alles verbarrikadieren und hoffen, dass die Bullen nicht gerade zack – reinkommen. Dann kommt das Warten darauf, bis diese Typen zum ersten Mal einfahren. Zuerst denkst du, es geht eine halbe Stunde. Doch manchmal geht es zwei Tage Wenn sie dann kommen, bist du am Pennen, weil du vorher so lange wach geblieben bist. »
Koni Rocker: «Man macht auch andere Erfahrungen: Man kommt in Gerichtssäle und kommt sich plötzlich so wichtig vor.»
Giovanni: «Manchmal kommen sie und sagen, du hast noch das und das offen, wegen einer Verfügung vom Betreibungsamt oder sonst etwas. Dann haben sie am meisten Freude, dich mitzunehmen. Sie können dich ein paar Stunden auf dem Polizeiposten behalten, und, du darfst deine Hosen runterlassen. Oder sie lassen die Zellentüre offen, damit alle Bullenangestellten reinschauen können. Und am Schluss musst du für den Transport bezahlen, mit dem sie die Sachen aus dem Haus geräumt haben.»

Codes im Kuchen

So ists natürlich einfacher, nur eine Nahestehende zu sein, die vorbeigeht, wenn der Power der anderen schon Früchte getragen hat. Dafür gehörst du aber nicht richtig dazu. Das zu spüren zu bekommen, damit hatten viele BesucherInnen schon in der Wohlgroth Mühe. Der «Wer bist du überhaupt»-Blick ist hart.
Was die Regeln fürs Akzeptiertwerden sind, ist nicht klar, das gilt es schon selber herauszufinden. Aber der Szenekuchen ist kein Zureich-Phänomen, im Theoriebuch «Bewegungslehre» der Agentur Bilwet («Agentur zur Beförderung illegaler Wissenschaffen») über die Kraker-Szene in Amsterdam steht Folgendes: «Was als eine zufällige Begegnung unter bizarren Umständen bei einer Besetzung oder auf der Strasse begann, führt allmählich zu einer näheren Bekanntschaft in abgeschotteter Atmosphäre. Die Szene entsteht, wenn man einander immer öfter an dazu auserkorenen Orten über den Weg läuft. Was anonyme Hingabe war, wird ein gemeinsamer Nenner, unter dem man sich selbst wieder zu finden sucht, sobald der Rausch vorbei ist. Wer sich in dem Nenner nicht finden kann, bleibt nach einiger Zeit weg, wer sowieso keinen Bedarf nach Nennern hat, ist bereits nach dem ersten Abend verschwunden. Die Aufnahme in eine Szene bedeutet die Annahme eines Fulltimejobs: Man muss sich die Unmengen spezifischer Geschichten, Beziehungen, Verhaltencodes und Moden zu Eigen machen.»
Isidora: «Ich hätte vielleicht auch schon früher mit Besetzen angefangen, aber ich habe mich auch abschrecken lassen – die Szene, die Zuheit. Die Isolierung ist halt ein Thema der gesamten Gesellschaft.»
Bedeuten die As auf den Häusern Anarchie?
Koni Rocker: «Ich finde schon, das BesetzerInnen vor allem anarchistisch sind.»
Peter: «Häuser besetzen ist anarch.»
Isidora: «Ja, und Anarchie ist geil, weil es darum geht, selber etwas zu tun.»
Es gibt ja oft die Folgerung: Anarchie Chaos = Chaoten.
Peter: «Stimmt manchmal schon ein bisschen.»
Elias F: «Eine gesunde Dosis Chaos … »
Isidora: «Wir drücken uns auf verschiedene Arten aus. Nicht nur mit irgendwelchen Worten und Parolen.»
Koni Rocker: «Für mich gibt es nur zwei Dogmas: 1. Mach, was du willst! 2. Tu, was dir gefällt!»
Peter: «Kein Gott, kein Staat, kein Mietvertrag!»
Aber dafür Sitzungen!
Elias E: «Knallhart drei Stunden.»
Glovanni: «Wo dann nichts dabei herauskommt am Schluss.»
Koni Rocker: «Ausser, dass jemand mehr rausgeflogen ist.» (Haha.)
Peter: «Oder wenn einer Hirse oder Gersten kocht bis zum Abwinken.»
Giovanni: «… oder die anderen sind alle Veganer, und du machst ein Kotelett.»
Peter: «Oder was machen wir, wenn einer mit Elektroöfelen anfängt? Du bist ein Arschloch, weil du zu faul bist, das Täfer zum Feuern aus dem Keller zu holen? Diese Konflikte, die gibt es einfach.»
Ellas F.: «Vielleicht hast du schon die gleichen Hintergründe und Ansprüche, wie jemand, der sich Anarchist nennt. Aber eben gerade dadurch, dass du es im Praktischen
ausprobierst, bekommst du ein pragmatisches Verhältnis zum Ganzen. Das macht die Sache auch weniger dogmatisch und farbiger und spontanen»
Peter: «Learning by doing – eine Lebensschule, statt in die RS … »
Ellas F.: «… eine kleine Schule der Anarchie … »
Koni Rocker: «… und es macht auch viel mehr Spass! Habt ihr das schon gesagt? Es macht natürlich viel mehr Spass.»

squat.net

Der Cyber-Treffpunkt der BesetzerInnen ist das squat.net. In verschiedenen Sprachen werden internationale Infos über Besetzungen, Unterstützungsaktionen oder Räumungen auf die Site geschrieben. Die CH-BesetzerInnen sind ziemlich fleissig – von der jüngsten Squater-Geschichte lässt sich vieles nachlesen.
Auch das neue Glacegarten-Programm ist auf dem Netz. Fast täglich hat irgendeine Veranstaltung stattgefunden: Kino, Konzert, Lesung oder eine Ausstellung im Museum. Die anfängliche Durchmischung der Szenen hat sich nur teilweise fortgesetzt … Aber am Wochenende scheint sich die partyfreudige Masse über den Untergrund zu freuen. Vielleicht hat der riesige Backsteinkamin, geschmückt mit blinkenden Baulaternen, gelockt. Am Samstag läuft Elektro und schon gibts ein Gedränge. Gepflegte Garderobe schmiegt sich an Betonsäule, aber auch aneinander, wenn der Besuch der Polizei mittels Menschenkette abgewehrt werden muss.
Auszüge aus Steinfels-Flugi 11: «3 Leute, die ein Haus besetzen, machen einen guten Anfang. 30 Leute, die ein Haus besetzen, kommen in die Zeitung mit dem Vermerk das hat gefälligst niemanden zu interessieren. 300 Leute, die ein Haus besetzen, machen die geilste Party des Jahres! So geschehen am Abend des 7. Oktobers 99. Kommt alle in den Glacegarten, in den neu eroberten Lebensraum mitten im Industriequartier der Stadt Zureich! Denn da haben wir uns genommen, was wir brauchen, einfach so, um unsere Kultur zu leben und unsere Träume zu verwirklichen.
Yep! 3000 Leute, die ein Haus besetzen, sind es beim nächsten Mal!»

PS: 12. November: Glacegarten steht noch. Der Verwalter hat versprochen, dass erst abgebrochen wird, wenn alle anderen Häuser sowie der schwermetallige Boden abgetragen sind. Die Neubesitzerin Rentenanstalt versichert, zügig etwas Neues zu bauen. Das Rockstoneprojekt mit seinen Bewilligungsproblemen wird es kaum sein. Da sind wir mal gespannt.