Armut geht durch den Magen
«Es gibt Tage, an denen ich morgens den Kühlschrank öffne und mich frage, was ich meinem Sohn zu essen geben kann.» Isabella schaut beschämt weg und raucht ihre Zigarette fertig. Sie ist hier aufgewachsen, hat hier ihre Ausbildung gemacht und arbeitet als Coiffeurin. Isabella ist eine von vielen Menschen, die arbeiten gehen und sich und ihre Familie dennoch nicht ernähren können. Ihre tägliche Entscheidung liegt zwischen Rechnungen bezahlen oder Lebensmittel einkaufen: Auch in der Schweiz gibt es Armut.
Als ich 2020 kurz nach dem ersten Corona-Lockdown mit dem Zug in den Hauptbahnhof Zürich einfahre, bemerke ich eine Schlange in der Nähe der Gleise vor dem 25-Hours-Hotel. Ein Bekannter erklärt mir dann später, dass es sich dabei um die Lebensmittelausgabe des Vereins Incontro handle. Die Menschen stehen dort stundenlang an, um eine warme Mahlzeit oder einen Sack mit Lebensmitteln zu erhalten. Im Schatten der Hochhäuser der Europaallee und des Google-Headquarters mit seinen Grossverdienern stehen Menschen Schlange vor Lebensmittelausgaben, weil das Geld nicht reicht, um Nahrungsmittel einzukaufen.
Isabella stand als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter auch in einer solchen Schlange an. «Ich kann mich noch genau an die bedrückte Stimmung erinnern und die Gesichter der Menschen, die dort anstanden. Zum grössten Teil migrantische Frauen mit ihren Kindern», erzählt sie. Sie erhielten einen Korb, und die ehrenamtlichen Helferinnen überreichten ihnen die notwendigen Dinge. Sie erinnert sich auch an die Scham ihrer eigenen Mutter. Jahrelang stand diese genau wie sie selber heute auch jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zur Arbeit zu gehen, manchmal hatte sie zusätzliche Jobs angenommen, und trotzdem war sie bei der Lebensmittelausgabe gelandet. Ihre Mutter fühlte sich wie eine Bittstellerin, und das war entwürdigend. Als sie zu Hause ankamen, sagte ihre Mutter: «Dort werden wir nie wieder hingehen.» Es war das erste und letzte Mal, dass sie in dieser Schlange standen. Ab diesem Moment entschied sich ihre Mutter dafür, Essen einzukaufen anstatt Rechnungen zu bezahlen.
Heute hat sich die Situation nicht verbessert, sie hat sich verschlimmert. Die Armut steigt, und Caritas spricht von einem «traurigen Rekord». Letztes Jahr verzeichnete sie einen Anstieg um 33 Prozent bezüglich der Einkäufe in ihren Lebensmittelläden. Wenn im Land mit der höchsten Dichte an Millionär:innen Menschen kein Essen einkaufen können, wenn sie entscheiden müssen zwischen Lebensmittelausgabe und Betreibungsamt, dann ist das Demütigung.
Isabella und ihre Mutter haben sich für die Armut geschämt, doch es sind nicht sie, die sich schämen sollten, sondern die Politiker:innen, die dafür sorgen, dass diese Ungleichheiten bestehen bleiben.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.