Armut in der Schweiz: Kollateralschaden mit Ansage
In der aktuellen Wirtschaftskrise wird auch die breite Armut sichtbar, in die hierzulande nun weitere Zehntausende Menschen zu fallen drohen. Rassismus und Diskriminierung, über die derzeit debattiert wird, sind mit ein Grund.
Ihren richtigen Namen will Roukaya Ammar nicht in der Zeitung lesen. Ihre Töchter wollten das nicht, sie würden sich schämen, wenn ihre Mutter öffentlich über ihre Armut reden würde, sagt die 47-Jährige. Wir sitzen in einem Café in Zürich Oerlikon. Die Töchter hätten sich auch geschämt, als sie ein paarmal hier in der Nähe bei einer Kirche angestanden sei, wo Essen verteilt wurde: «Sie hatten Angst, dass mich jemand erkennen könnte.»
Als Ammar im Jahr 2000 frisch mit einem Schweizer verheiratet aus Tunesien hierherkam, war noch alles gut. Sie erhielt auch den Schweizer Pass. Doch nach der Scheidung 2010 ging es bergab. Ammar stand allein mit drei jungen Töchtern da. Seither hat die in Tunesien zur Polizistin Ausgebildete an unzähligen Orten gejobbt. Meist als Putzfrau – befristet, temporär, auf Abruf. 2014 heiratete sie erneut, bekam eine vierte Tochter. Doch obwohl ihr Mann bis vor kurzem Vollzeit als Restaurantlieferant arbeitete und sie zwei bis drei Tage in der Woche TouristInnenappartements am Zürcher Hauptbahnhof putzte, kamen sie nicht einmal auf den minimalen Grundbedarf, den die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) definiert. Nach Abzug von Miete und Krankenkasse sind das für eine sechsköpfige Familie wie die Ammars 2600 Franken.
Dann kam Corona. Ihr Mann wurde auf Kurzarbeit gesetzt, ihr wurde gekündigt – mit ausbleibenden TouristInnen wurde sie nicht mehr gebraucht. Die letzten Mieten ihrer Wohnung in Zürich Schwamendingen konnte sie nur dank Geldern der Glückskette bezahlen. «Das Geld war schon vorher knapp», sagt Ammar. Auch ihre Kinder müssten auf vieles verzichten. Ihre drittälteste, vierzehnjährige Tochter wolle jetzt in der Freizeit mit ihren Freundinnen in die Stadt. Als sie ihr kürzlich kein Geld für das Billett habe geben können, sei ihre Tochter schwarzgefahren und dabei erwischt worden. «Jetzt zahlen wir die Busse in Raten ab.»
Immer mehr Fälle für die Sozialhilfe
So wie Roukaya Ammars Familie geht es vielen in der Schweiz. Bereits vor Ausbruch der Coronapandemie lebten hier gemäss offiziellen Zahlen 660 000 Menschen in Armut. Für eine Zweielternfamilie mit zwei Kindern bedeutet das ein Leben mit monatlich weniger als 3969 Franken. 144 000 Menschen, die in Armut leben, sind Kinder. Hinzu kommen 1,2 Millionen Menschen, die von Armut bedroht sind – davon 291 000 Kinder. Es sind Leute in prekären Anstellungen und mit tiefen Löhnen.
In der aktuellen Wirtschaftskrise drohen nun alle von ihnen in die Armut abzurutschen – beziehungsweise noch tiefer in sie hinein. Ende Mai waren 156 000 Menschen in der Schweiz arbeitslos, 38 000 mehr als drei Monate davor. Gemäss Prognosen werden noch Zehntausende hinzukommen – angesichts der bereits anrollenden zweiten Coronawelle vielleicht auch mehr. Hinzu kommen Selbstständige, die in Schwierigkeiten sind, sowie 1,9 Millionen Menschen, für die Kurzarbeit beantragt wurde. Für viele Leute mit tiefen Einkommen ist die Lohneinbusse von zwanzig Prozent, die die Kurzarbeit bedeutet, existenziell. Die Skos diagnostiziert bereits jetzt einen Anstieg der SozialhilfebezügerInnen. Bis 2022 rechnet sie mit einer Zunahme um 28 Prozent.
Von Armut bedroht sind gemäss offiziellen Zahlen vor allem Frauen – besonders Alleinerziehende. Während 12,5 Prozent der Männer von Armut gefährdet sind, sind es bei den Frauen 15,1 Prozent. Noch gefährdeter sind grundsätzlich Menschen mit Migrationshintergrund. Ihre Diskriminierung, über die die Schweiz seit der Tötung von George Floyd in den USA debattiert, hat vor allem auch eine ökonomische Dimension. Unter ihnen sind selbst 17,2 Prozent der Männer armutsgefährdet, bei den Frauen sind es 17,8 Prozent. Viele von ihnen sind SchweizerInnen. Doch selbst unter Männern ohne Migrationshintergrund liegt die Armutsgefährdungsquote bei 9,6 Prozent.
Risiko Migrationshintergrund
Die Armut fällt nicht vom Himmel. Ihr Grund liegt in einem Wirtschaftssystem, das den reichlich vorhandenen Wohlstand immer ungleicher verteilt. Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Quote der Erwerbslosen, die kein Einkommen auf dem Markt erzielen, von 3,7 auf 4,7 Prozent gestiegen. Hinzu kommt die vor allem von Frauen geleistete Pflege- und Betreuungsarbeit, die nicht entlöhnt wird. Laut Schätzungen liegt der Wert dieser Arbeit bei rund hundert Milliarden Franken – einem Siebtel des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Doch auch viele, die ein Einkommen erzielen, stecken immer mehr in prekären Arbeitsverhältnissen mit tiefem Lohn, wie eine Studie des Bundes zeigt: Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverträge, Arbeit auf Abruf und Temporärarbeit sind auf dem Vormarsch. 2016 verdienten fast eine halbe Million Menschen weniger als 4300 Franken im Monat – auch hier vor allem Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund sowie einer tiefen schulischen Ausbildung. Ein Fünftel der 660 000 Leute, die in Armut leben, sind Working Poor: Menschen, die trotz Arbeit zu wenig zum Leben haben.
Vierzig Prozent des jährlichen BIP gehen jedoch ohnehin nicht an die arbeitende Bevölkerung, sondern als Zins, Dividenden oder Mieten an das Kapital. Da die Hälfte der Bevölkerung – inklusive Pensionskassenersparnis – gerade einmal zehn Prozent aller Vermögen besitzt, erhält sie auch kaum etwas von diesen Milliarden. Gleichzeitig rasen die SpitzenverdienerInnen seit Jahren den anderen davon – inzwischen verdienen 14 000 Leute über eine halbe Million Franken pro Jahr. Zudem haben sich die Vermögen der wenigen Millionärinnen und Milliardäre, die ein Drittel des gesamten Vermögens halten, in einem Jahrzehnt verdoppelt.
Höhere Steuern sind notwendig
Hugo Fasel, den die WOZ per Video in seinem Büro erreicht, sieht in der hiesigen Armut das Resultat einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Bevor der 64-Jährige Chef des Hilfswerks Caritas wurde, sass der Ökonom siebzehn Jahre lang für die Christlich-soziale Partei (CSP) im Nationalrat. Armut sei das Ergebnis einer Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die die Verteilung des Wohlstands immer mehr dem Markt überliessen, ohne nach den sozialen Folgen zu fragen. «Armut ist lediglich die Konsequenz dieser Politik – immer mehr Menschen werden aus dem System hinausgespült.»
Um die Armut zu bekämpfen, sagt Fasel, brauche es höhere Löhne für die am schlechtesten bezahlten Jobs, von denen sich jüngst viele als systemrelevant erwiesen haben. Fasel verlangt weiter auch bessere Weiterbildungsmöglichkeiten oder die Anerkennung der Kindererziehung als gesellschaftlich notwendige Arbeit. Schliesslich komme die Schweiz auch nicht um einen Ausbau des Sozialstaats herum: «Die Schweiz muss Menschen, die an den Rand gedrängt werden, ein Einkommen garantieren, mit dem sie leben können.» Dazu brauche es höhere Steuern.
Die Armen würden auch jetzt in der Coronakrise weitgehend vergessen, sagt Fasel, «das haben wir dem Bundesrat in einem Brief geschrieben». All die Leute des unteren Mittelstands, die trotz Kurzarbeitsentschädigung und anderen Unterstützungen in die Armut abzurutschen drohten, müssten nun befristete Direktzahlungen erhalten; dazu eine höhere Kurzarbeitsentschädigung, kostenlose Krippenplätze und eine höhere Krankenkassenverbilligung. Sie drohten sonst in der Sozialhilfe zu landen.
Fasel befürchtet, dass die Kosten der Coronakrise mit Sparpaketen zuungunsten der Ärmsten gedeckt werden. «Dabei ist die Debatte, die über die Schulden geführt wird, lächerlich.» Kaum ein Land habe so tiefe Schulden wie die Schweiz. Fasel erinnert an den Versuch des Berner SVP-Regierungsrats Pierre-Alain Schnegg, die Sozialhilfe unter die Skos-Richtlinien zu senken – er war damit erst an der Urne gescheitert. Die SVP wird weiter versuchen, die AusländerInnen für den Anstieg der Sozialhilfe verantwortlich zu machen, um diese zu kürzen.
Nicht nur sind AusländerInnen und SchweizerInnen mit Migrationshintergrund stärker auf Sozialhilfe angewiesen – weil ihre Chancen, in einem prekären Job mit tiefem Lohn zu landen, ungleich höher sind. Sie werden auch dazu benutzt, die Ungleichheit insgesamt zu zementieren: Um auch allen anderen Armen nichts abgeben zu müssen, wird diesen von Rechtsbürgerlichen seit Jahren eingebläut, dass jene mit Migrationshintergrund – insbesondere AusländerInnen – schuld an ihrer Armut seien. 2014 stimmten siebzig Prozent der SchweizerInnen mit Einkommen unter 3000 Franken für die «Masseneinwanderungsinitiative». Bei der «Begrenzungsinitiative» der SVP im Herbst wird es ähnlich sein. Teile und herrsche.
Immer mehr wird zudem die Aufenthaltsberechtigung dazu benutzt, AusländerInnen aus der Sozialhilfe auszuschliessen. FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter hat die entsprechenden Regeln Anfang des Jahres zusätzlich verschärft. Wenn AusländerInnen mit einem B- oder C-Ausweis Sozialhilfe beziehen, riskieren sie, ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren.
Ein Leben unter Dauerstress
Deshalb bezieht auch Roukaya Ammars Familie seit letztem Sommer keine Sozialhilfe mehr – obwohl sie schon vor der Coronakrise weniger als den von der Skos festgelegten Grundbedarf von 2600 Franken zum Leben hatte. Ammars Mann ist Libanese und hat einen B-Ausweis, den er jährlich erneuern muss. Jedes Jahr hätten sie sich von neuem bei der Fremdenpolizei für die Sozialhilfe rechtfertigen und wochenlang auf den neuen Ausweis warten müssen, sagt Ammar. «Mein Mann und ich haben eine gemeinsame Tochter – wir wollen nicht mehr mit diesem Stress leben.»
Hinzu sei der Stress gekommen, sich ständig auch gegenüber den Sozialhilfebehörden für ihre Situation rechtfertigen zu müssen. Und die Scham, die man gegenüber der Gesellschaft empfinde: «Ich kenne viele Familien, die mit weniger als dem Minimum leben und trotzdem keine Sozialhilfe annehmen», sagt Ammar. Laut Schätzungen gilt das für rund ein Viertel aller Leute, die Anrecht auf Sozialhilfe hätten.
Doch auch die Armut selbst bringe Stress mit sich, sagt Ammar. Weil man der Tochter kein Billett bezahlen könne, damit diese mit Freundinnen in die Stadt fahren könne. Weil man nicht wisse, ob man die nächste Rechnung bezahlen könne. «Diese Anspannung ist ständig präsent», sagt Ammar, «ständig sind alle wie unter Strom.» Sie kenne viele Familien, denen es so ergehe: Eine ihrer Töchter habe bis vor kurzem einem Mädchen – dessen Eltern im Übrigen SchweizerInnen seien – Nachhilfeunterricht gegeben, um sich ein kleines Sackgeld zu verdienen. Eben kürzlich habe ihr die Mutter des Mädchens gesagt, dass sie sich die Nachhilfe nicht mehr leisten könne.
Ammar hat sich inzwischen auf etliche Stellen beworben. «Am liebsten würde ich in einem Hort arbeiten, ich mag Kinder.» Sie hat sich jedoch auch auf Stellen als Putzfrau gemeldet – unter anderem bei Aldi, um jeden Abend nach Ladenschluss vier Stunden putzen zu gehen. Normalerweise verdiene sie für solche Jobs zwanzig Franken pro Stunde, brutto.