Israel und die Logik der Eskalation

Le Monde diplomatique –

Mit dem Angriff auf Iran hat Netanjahu seine Ambitionen für eine „Neuordnung des Nahen Ostens“ unter Beweis gestellt. Dabei geht es dem israelischen Premier nicht nur um die Verhinderung einer iranischen Bombe. Israel behält sich vor, sein überlegenes Militär jederzeit und überall in der Region einzusetzen.

Konterfeis von durch Israel getöteten Militärkommandeuren, Teheran, 28. Juni 2025
Konterfeis von durch Israel getöteten Militärkommandeuren, Teheran, 28. Juni 2025 Foto: picture alliance/Middle East Images/Afshin

Der Nahe Osten versinkt jeden Tag ein Stück tiefer im Chaos, und man muss kein unverbesserlicher Schwarzseher sein, um einen größeren atomaren Zwischenfall für möglich zu halten. Mit seiner Entscheidung für massive Luftangriffe gegen die Islamische Republik Iran hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bewiesen, dass seine Ambitionen für eine „Neuordnung des Nahen Ostens“ weit über Gaza und die unmittelbaren Nachbarstaaten Israels hinausgehen.1

Damit hat Netanjahu die Spannungen in der Region um etliche Grade angeheizt und einen neuen Krieg entfesselt, den sogar Israels wichtigster Verbündeter und großer Beschützer nach eigenem Bekunden nicht wollte.

Nachdem US-Präsident Donald Trump zunächst gezaudert hatte, haben die USA am 22. Juni selbst in den Krieg eingegriffen und die iranischen Atomanlagen mit strategischen Bombern und Raketen angegriffen. Teheran reagierte mit einem eher symbolischen Vergeltungsschlag gegen die US-Militärbasis Al Udeid in Katar.

Krieg in Nahost

Karte zur kriegerischen Eskalation in Nahost: Länder, Erzfeinde, strategisch wichtige Meerenge, Iranische Atomanlagen, Atommächte, Erdgas- und Erdölvorkommen, Militärausgaben, Stützpunkte und Marinepräsenz des US-Militär
(grosse Ansicht der Karte)

Der Krieg endete mit dem Waffenstillstand vom 24. Juni, der von Washington angeordnet wurde, nach einer Dauer von gerade mal 12 Tagen. Doch trotz dieses raschen Endes wäre es verfehlt, die jüngste Auseinandersetzung mit dem mehrfachen militärischen Schlagabtausch im Jahr 2024 zu vergleichen. Damals waren viele Beobachter der Meinung, dass die beiden Hauptakteure Israel und Iran vor allem ihr Gesicht wahren wollten und bemüht waren, eine Eskalation mit ungewissem Ausgang zu verhindern.

Die direkte Beteiligung der USA hat die gesamte Konstellation verändert. Präsident Trump hat deutlich gemacht, dass die USA auch in Zukunft nicht zögern werden, ihre militärischen Mittel einzusetzen, um die Islamische Republik in die Knie zu zwingen. Und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kann sich zu Recht damit brüsten, dass er es geschafft hat, den Verbündeten und Beschützer USA in eine direkte Konfrontation mit Iran zu zwingen.

Was will Netanjahu auf lange Sicht?

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass Iran noch immer über die Fähigkeit zu Vergeltungsschlägen verfügt, die weder Israel noch die Golfmonarchien ignorieren können. Für das Mullah-Regime ist die Bilanz der wechselseitigen Luftangriffe dennoch katastrophal: fast eintausend Tote und tausende Verletzte; teilweise Zerstörung der Atomanlagen und Verlust großer Mengen an militärischem Material (zerstörte Flugzeuge und verschossene Raketen).

Die Szenerie zu Beginn dieses Sommers stellt sich damit so dar: Israel sieht seine Kriegsziele offenbar noch nicht erreicht, in den USA wird das isolationistische Credo von Präsident Trump infrage gestellt; und das iranische Regime ist zwar geschwächt, aber immer noch in der Lage, zurückzuschlagen. Die entscheidende Frage ist, wie lange dieses fragile Gleichgewicht noch bestehen kann.

Ob die Waffenruhe länger anhält, wird vor allem von Netanjahu abhängen. Über die langfristigen Ziele des israelischen Regierungschefs herrscht aber nach wie vor Unklarheit. Während die israelische Armee weiterhin den Gazastreifen verwüstet – wo nach neueren Schätzungen bereits über 75 000 Menschen getötet wurden2 und die große Mehrheit der Bevölkerung unter einer erbarmungslosen Hungerblockade leidet –, hat Netanjahu verkündet, sein Land wolle die voranschreitende Entwicklung einer iranischen Atombombe stoppen. Damit wiederholte er nur eine seit 20 Jahren vorgetragene alte Leier.

Kurz vor Beginn der Kampfhandlungen hatten Washington und Teheran noch über ein Rahmenabkommen zum iranischen Atomprogramm verhandelt. Ein weiteres Treffen war für den 15. Juni in Oman angesetzt. Anders als von Netanjahu immer wieder behauptet, gibt es keinen offiziellen Beweis dafür, dass Iran kurz vor dem Bau einer Atombombe steht.3

Auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) behauptet das nicht. Zwar heißt es in einem IAEO-Bericht vom 31. Mai, Iran habe seine Bestände an stark angereichertem Uran seit dem letzten Bericht vom Februar massiv ausgeweitet und verfüge über mehr als 400 Kilogramm an bis zu 60 Prozent angereichertem Uran.4 Für den Bau einer Atombombe ist ein Reinheitsgrad von mindestens 90 Prozent notwendig.

Selbst wenn Teheran waffenfähiges Uran herstellen sollte, wären für einen Test unter realen Bedingungen zuvor noch aufwendige Simulationsprozesse erforderlich, was wiederum entsprechende militärische und technische Kapazitäten voraussetzt.

Von westlicher Seite aufgebotene „Experten“ verkünden zwar seit Jahrzehnten, das Mullah-Regime stehe „wenige Monate vor Fertigstellung der Bombe“5, doch die meisten Fachleute gehen davon aus, dass dafür mindestens noch ein Jahr erforderlich ist.6

Am 25. März berichtete Tulsi Gabbard, die Direktorin der US-Nachrichtendienste, bei einer Anhörung vor dem US-Kongress, Iran habe seine konventionellen ballistischen Kapazitäten erheblich ausgebaut. Doch zugleich stellte sie fest: „Die Geheimdienste schätzen nach wie vor ein, dass Iran nicht an einer Atomwaffe baut.“7 Knapp zwei Monate später wies Donald Trump diese Aussage schroff zurück, woraufhin auch Gabbard versicherte, Teheran könne „innerhalb von Wochen“ eine Bombe herstellen.8

Die Islamische Republik hat bekanntlich stets behauptet, dass sein Nuklearprogramm rein zivile Ziele verfolge und dass man nicht die Absicht habe, sich Atomwaffen zuzulegen. 2003 erließ der Oberste Führer Ali Chamenei eine Fatwa (ein religiöses Rechtsgutachten), die Entwicklung und Einsatz von Massenvernichtungswaffen verbietet und den Einsatz solcher Waffen als „schwere Sünde“ qualifiziert.9 Diese Position hat Teheran 2005 gegenüber der IAEO offiziell bestätigt.9

Israel verweigert bekanntlich jede Auskunft über sein eigenes nukleares Arsenal. Das Land ist dem Atomwaffensperrvertrag niemals beigetreten und dürfte heute über mindestens 90 Atomsprengköpfe verfügen. Einige prominente Stimmen in Israel haben sogar gefordert, diese Waffe gegen Iran einzusetzen.10 Die Konsequenzen eines solchen Einsatzes – den auch Netanjahu nie ausgeschlossen hat – kann man sich leicht ausmalen.

Dem israelischen Regierungschef geht es ganz sicher nicht nur darum, Iran an der Entwicklung einer Bombe zu hindern. Jede neue Krise verschafft ihm innenpolitisch eine willkommene Atempause. In Kriegszeiten tritt die Forderung nach seinem Rücktritt in den Hintergrund, was auch für die Korruptionsprozesse gegen ihn gilt.

Trotz der heftigen Kritik, die Netanjahu in den vergangenen Wochen einstecken musste, ist es ihm gelungen, alle offiziellen Untersuchungen zum Versagen der Armee und des Sicherheitsapparats vor den Hamas-Attacken vom 7. Oktober 2023 zu verhindern. Darüber hinaus betreibt auch weiterhin sein privates Katz-und-Maus-Spiel mit der israelischen Justiz. Und seit dem Angriff auf Iran zeigt die Popularitätskurve des Regierungschef wieder nach oben.

Doch unabhängig von der Frage seines politischen Überlebens hält Netanjahu den Zeitpunkt für gekommen, an dem Israel seine Feinde – und nicht nur Iran – in die Schranken weisen muss. In dieser Entschlossenheit wird er auch dadurch bestärkt, dass er selbst angesichts der Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und im Libanon (auf dessen Territorium die israelische Armee immer noch steht) auf internationaler Ebene offensichtlich Straffreiheit genießt. Und so kann er ganz unverblümt über den Sturz des theokratischen Regimes in Teheran reden und die iranische Bevölkerung auffordern, sich gegen ihre Führung zu erheben.

In einem Interview mit dem US-Fernsehsender ABC wurde Netanjahu auf die Option angesprochen, Chamenei „aufs Korn zu nehmen“. Seine Antwort: „Das würde den Konflikt nicht verschärfen, sondern beenden.“ Im Übrigen werde Israel „tun, was es tun muss“. Noch vor einem Jahr hätte man solche Sprüche als verantwortungslose Wichtigtuerei abgetan. Spätestens seit der libanesische Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im September 2024 durch israelische Bomben gezielt getötet wurde, ist jedoch klar, dass sich die Regierung Netanjahu an keinerlei Regeln oder Grenzen mehr hält.

Die USA haben das Konzept des Regime Change Ende der 1990er Jahre entwickelt. Exemplarisch umgesetzt wurde es mit dem Sturz des Saddam-Hussein-Regimes durch die amerikanisch-britische Invasion im Irak vom Frühjahr 2003. Heute droht auch Tel Aviv mit solchem Vorgehen – etwa um jene arabisch-muslimischen Nachbarländer unter Druck zu setzen, die Israel jede Normalisierung verweigern, solange es keine gerechte Lösung der Palästinenserfrage gibt.

Bislang hat die Netanjahu-Regierung die diplomatischen Bemühungen Washingtons hingenommen, doch neuerdings lässt sie ihre Muskeln spielen. Die Botschaft ist klar: Was Gaza und der Hamas, dem Libanon und der Hisbollah widerfahren ist, kann sich überall in der Region wiederholen.

Das Sparta des Nahen Ostens

Mit Kriegsdrohungen operierte Israel schon während der Präsidentschaft von Joe Biden. Doch seit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus hat sich diese Tendenz verstärkt. Sie wurde auch dadurch gefördert, dass sich Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Marokko 2020 dem Abraham-Abkommen anschlossen.

Es ist keineswegs ein Zufall, dass Syriens Interimspräsident Ahmed al-Scharaa jede Konfrontation mit dem Nachbarn im Süden vermeidet, obwohl Israel syrisches Territoriums besetzt hält und eine Demilitarisierung für den Süden des Landes fordert. Daran zeigt sich, wie sehr die neue Regierung in Damaskus auf eine Aussöhnung mit Washington angewiesen ist.

Eine ähnliche Entwicklung ist auch in anderen Staaten der Region zu beobachten. In Algerien, lange Zeit ein Eckpfeiler der „Ablehnungsfront“ gegen Tel Aviv, irritierte Präsident Abdelmadjid Tebboune viele seiner Landsleute mit der Äußerung, man sei bereit, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, „sobald es einen palästinensischen Staat gibt“ (L’Opinion, 2. Februar 2025). Mit diesem Entgegenkommen will sich Algier die Gunst Washingtons sichern – was auch damit zu tun hat, dass man über die militärische Annäherung zwischen Israel und Marokko beunruhigt ist.

In Tunesien verlautet aus diplomatischen Kreisen, der neue US-Botschafter Bill Bazzi – ein Trump-Vertrauter libanesischer Abstammung – habe den Auftrag, Tunis zur Aufnahme eines Dialogs mit Israel zu drängen.

Netanjahu geht bei seiner Iran-Wette von der Kalkulation aus, dass jeder neue Machthaber in Teheran zwangsläufig auf Frieden mit Israel aus sein werde und dass die Bevölkerung dem zustimmen würde. Das heißt aber keineswegs, dass sich Israel eine demokratische Regierung in Teheran wünscht. Vielmehr glaubt Netanjahu, ohne es zu sagen, dass ein autoritäres Regime, das Frieden mit Israel schließt, einer iranischen Demokratie vorzuziehen wäre.

Das Beispiel Ägypten ist in dieser Hinsicht eine Lehre: Was würde es für das Friedensabkommen zwischen Tel Aviv und Kairo bedeuten, wenn das Regime von Abdelfattah al-Sisi morgen durch eine demokratische Regierung abgelöst würde, während in der Bevölkerung weiterhin eine feindselige Einstellung zu Israel überwiegt? Erst kürzlich hat die ägyptische Regierung abermals demonstriert, welcher Seite sie sich verpflichtet sieht, als sie hunderte Aktivisten aus der ganzen Welt an einem friedlichen Solidaritätsmarsch zur Gaza-Grenze hinderte.

Netanjahu und seine Entourage wissen genau, dass die Bevölkerung der arabischen Länder in der gesamten Region den Staat Israel niemals voll akzeptiert werden, solange den Palästinensern keine Gerechtigkeit widerfährt. Deshalb hat die „einzige Demokratie im Nahen Osten“, als die sich Israel gern von seinen Unterstützern bezeichnen lässt, ein Interesse daran, dass in ihren Nachbarländern diktatorische Regime an der Macht bleiben. Die allerdings vom Westen bestraft werden, wenn sie nicht spuren.

Dagegen würde es Netanjahu als Bedrohung sehen, wenn Israel von Demokratien umgeben wäre – und wenn die Konflikte in der Region auf Basis des Völkerrechts geregelt würden. Doch was die Geltungskraft des Völkerrechts betrifft, so kann man in Tel Aviv angesichts der jüngeren Entwicklung unbesorgt sein. Und so verwandelt sich Israel Schritt für Schritt in ein Sparta des Nahen Ostens, das allein auf militärische Stärke und Kriege setzt.

1 Siehe „Kommt der große Nahostkrieg?“, LMd, Mai 2024.

2 Siehe Leonard Scharfenberg, „Die Todeszahlen aus Gaza dürften deutlich höher sein“, Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2025.

3„Was Iran months away from producing a nuclear bomb?“, BBC, 14. Juni 2025

4 Siehe „Verification and monitoring in the Islamic Republic of Iran in light of United Nations Security Council resolution 2231 (2015)“, IAEO, 31. Mai 2025.

5 Siehe Alain Gresh, „Quand l’Iran aura-t-il l’arme nucléaire?“, LMd-Blog Nouvelles d’Orient, 4. September 2006.

6 William J. Broad, „To Build a Nuclear Bomb, Iran Would Need Much More Than Weeks“, The New York Times, 2. Oktober 2024.

7„DNI Gabbard Opening Statement for the SSCI As Prepared on the 2025 Annual Threat Assessment of the U.S. Intelligence Community“, Office of the Director of National Intelligence, 25. März 2025.

8„Tulsi Gabbard now says Iran could produce nuclear weapon ‚within weeks‘“, BBC, 21. Juni 2025

9 Bertrand Besancenot, „La fatwa de Khamenei excluant une bombe nucléaire iranienne est-elle toujours d’actualité?“, ESL Rivington, 20. September 2024.

10„Benny Morris: Israeli historian calls for nuclear strike on Iran“, Middle East Eye, 1. Juli 2024.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld