Peter von Matt (1937–2025): Im Unbewussten der Schweiz
Manchmal konnte man ihn an der Universität Zürich beobachten, wie er vor seiner Vorlesung in einem Seitengang neben der Aula stand, eine kleine Insel mitten im geschäftigen Treiben. Konzentriert wippte er von den Zehenspitzen auf die Fersen und zurück und übte nochmals die Schlüsselstellen im Manuskript. Dieses elastisch Federnde übertrug sich aufs Reden – und auf sein Schreiben. Es gab (und gibt) nicht viele Professor:innen, die beides so gut konnten wie der Germanist Peter von Matt, der am Ostermontag kurz vor seinem 88. Geburtstag verstorben ist.
Dass von Matts Vorlesung in den neunziger Jahren «Montagsmesse» genannt wurde und im grössten Saal der Uni stattfand, lag auch daran, dass viele Fans von auswärts herbeiströmten. Wir Studierenden sassen mit skeptischem Sicherheitsabstand in den hinteren Reihen – so viel Popularität hatte auch etwas Verdächtiges – und lernten doch Entscheidendes. Vor allem, dass das textnahe Interpretieren von Literatur eine verführerische und detektivisch verwickelte Sache sein kann.
Sein Lehrstuhlvorgänger war Emil Staiger, der sich noch 1966 mit einer reaktionären Rede gegen die Moderne hervorgetan hatte. Unmittelbar nach seiner Habilitierung markierte von Matt auf seine Art Distanz zum Doktorvater. 1971 hielt er eine Vorlesung zu «Literaturwissenschaft und Psychoanalyse», die moderne Wissenschaft par excellence. Im Essayband «Das Kalb vor der Gotthardpost» zerlegte er vier Jahrzehnte später Schillers «Tell» und führte – mit anhaltendem Spürsinn für die Macht des Unbewussten – Gotthelfs «Schwarze Spinne» als den ehrlicheren Nationalmythos an.
Peter von Matts Bücher handelten von «Liebesverrat» (die Kopie dieses Buchs in der Bibliothek des Deutschen Seminars war abgegriffen wie ein Krimi), von Intrigen, missratenen Töchtern, «tintenblauen Eidgenossen». In ihnen durchquerte er mit stupender Belesenheit Kinderverse, Weltliteratur – und ihre Schweizer Ableger. Die Thesen waren bei von Matt immer verästelt in den ganzen Text hinein. Als Interviewter feuerte er Bonmots ab: «Was ist das Wundersame an der Schweiz?», fragte die NZZ. «Das Mühsame», antwortete von Matt.
Nach der Emeritierung äusserte sich der überzeugte Europäer immer öfter auch politisch, namentlich gegen infantile Schweizbilder. Er sehe rechts aussen politische Parteien, «etwa die SVP», die das Schweizer Mythendefizit schamlos ausnützten. Die Schweiz, dieses «Land der Beizer» (von Matt), hat nicht viele Intellektuelle von Rang. Peter von Matt war einer.