Gesamtwerk: Geld ist da, Geist auch

Nr. 41 –

Es ist das derzeit grösste Editionsprojekt im deutschen Sprachraum: Jeremias Gotthelf soll in seiner ganzen Fülle ins Buchregal kommen. Die erste Phase der historisch-kritischen Gesamtausgabe läuft.

Das Klischee geht etwa so: Es war einmal ein eher konservativer Pfarrer im Emmental, der ausser erbaulichen Predigten auch noch Bücher über Bauern und Spinnen schrieb. Leider war er bald vergessen. Nur die schmackhaften Bitziuswürste aus Lützelflüh erinnern heute noch an den guten Mann.

So lautet etwas verkürzt die tradierte Wahrheit über Albert Bitzius (1797 - 1854), der später den Namen einer seiner schönsten Figuren aus dem «Bauernspiegel» übernahm: Jeremias Gotthelf.

Doch wer war Gotthelf wirklich? Dieser Frage geht das Germanistische Institut der Universität Bern nach - und zwar gründlich: Gotthelf soll endlich die Ehre einer historisch-kritischen Gesamtausgabe zuteil werden. Die Zeit ist reif, der neue Bitzius muss raus - und wenn es dreissig Jahre dauern sollte!

Wenn jetzt nichts passiert

Das grosse Gotthelf-Editionsprojekt ist bis zur Vollständigkeit tatsächlich auf mindestens drei Jahrzehnte angelegt. Ins Leben gerufen wurde es im Gefolge der Gedenkfeierlichkeiten zum 200. Geburtstag Gotthelfs im Jahr 1997. «Wenn jetzt nichts passiert, dann ist Gotthelf für immer tot», dachte sich der damalige Präsident des Vereins «Gotthelf-Stube Lützelflüh», Alfred Reber. Seine Idee kam an: Im Frühjahr 2003 wurde das Editionsprojekt der Erziehungsdirektion des Kantons Bern vorgestellt. Von dort gelangte es über das Rektorat der Uni Bern weiter an Barbara Mahlmann-Bauer, Professorin für neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik. Zusammen mit ihrem Kollegen Christian von Zimmermann hat sie die ersten zwei Teilprojekte des Editionsplans entwickelt.

Die drei ideellen und finanziellen Pfeiler bilden die Bernische Erziehungsdirektion, der Schweizerische Nationalfonds und die Jeremias-Gotthelf-Stiftung. Letztere verwaltet und investiert für die «Erhaltung des Erbes» 6,5 Millionen Franken. Der Nationalfonds fördert die einzelnen Projektphasen jeweils für eine Spanne von drei Jahren nach erbrachten «ordentlichen Leistungsbilanzen», wie sich Mahlmann-Bauer ausdrückt.

Alles wäre da ...

Wer eine solch gewaltige Arbeit beginnt, braucht Hilfe. Inzwischen wurden rund zehn Assistierende, Mitarbeitende und Doktorierende vom Institut für Germanistik der Uni Bern sowie - im Hinblick auf die Fortsetzung des Projekts - viele StudentInnen für Gotthelf rekrutiert und begeistert. Mahlmann-Bauer ist fest davon überzeugt, dass es Zeit ist für eine historisch-kritische Gesamtausgabe. Sie ist auf etwa 67 Bände angelegt - und niemand hat Angst davor, in der Üppigkeit des Werks oder in der dicken Emmentaler Nidle stecken zu bleiben. Im Gegenteil: Es ist gerade die üppige Quellenlage, die Mahlmann-Bauer begeistert: «Alles, was wir brauchen, ist im Prinzip da.»

Doch das ganze vorhandene Gotthelf-Material wurde noch nie so sorgfältig ediert, wie der Autor es verdient hätte. Die bisherigen Editionen haben Gotthelf stets nur in Auswahl und nicht im Original dargeboten. Teilweise wurde in die Anlage und den Inhalt der Texte eingegriffen, ohne dies nachzuweisen. So ist oft nicht mehr zu erkennen, was Gotthelf-Wortlaut und was editorischer Eingriff ist. Besonders schwerwiegend aus philologischer Sicht ist dies etwa bei «Der Herr Esau», einem wenig bekannten späten Roman. Dort wurden ganze Textpassagen ohne Hinweis einfach ausgelassen.

Ein weiteres Sorgenkind sind die Kommentare. In der Edition der «Sämtlichen Werke» im Eugen-Rentsch-Verlag entstanden zwischen 1911 und 1977 24 Bände und 18 Ergänzungsbände. Darin sind insbesondere die Kalendergeschichten nur unzulänglich kommentiert worden. Es fehlten damals schlicht die Ressourcen für einen vollständigen Apparat. Zwei Weltkriege kamen den HerausgeberInnen in die Quere, zudem hatten sie immer wieder mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen. «Als Anfang war das grossartig!», würdigt Mahlmann-Bauer die grosse editorische Vorarbeit der immer noch massgeblichen, weil vollständigsten Ausgabe. Doch keine der bisherigen Ausgaben kann auch nur annähernd heutigen philologischen Massstäben genügen.

Das Hauptargument für die neue Gesamtausgabe ist in den Augen von Mahlmann-Bauer aber, dass Gotthelf bislang nie zu seiner Vielstimmigkeit verholfen wurde. Die neue Edition soll das Vorurteil korrigieren, Albert Bitzius habe sein erzählerisches Werk als emmentalerisches Original fernab aktueller literarischer Strömungen allein aus einer Art genialer Naturwüchsigkeit geschöpft. Das ist, so weiss man heute, einfach falsch. Diese falsche Einschätzung ist unter anderem Anlass dafür, dass das Editionsprojekt mit zwei vergleichsweise exotischen Teilen beginnt, nämlich mit der Sichtung der Predigten und Kalenderschriften einerseits und der pädagogischen und publizistischen Schriften anderseits.

Brücke zum Erzählwerk

Das bekanntere erzählerische Werk muss also hintanstehen. Ein solches Vorgehen erstaunt zunächst. Wie soll gerade dieser «anti-kanonische» Plan kommenden Generationen von SchülerInnen den Schlüssel zu einem weitgehend in Vergessenheit geratenen Autor liefern? Mahlmann-Bauer und ihr Kollege von Zimmermann sind der Auffassung, die unbekannten Texte Gotthelfs - zum Beispiel seine Artikel in der Berner Presse - stellten eine Art inneren Kommentar dar und könnten damit eine Brücke zum Erzählwerk bilden. Das könne gerade SchülerInnen mit lückenhaftem historischem Fundament beim Verständnis von Gotthelfs Werk weiterhelfen. «Wir glauben, wenn man Bitzius' zeitgeschichtliche Aktivitäten - seine Tätigkeit als Pfarrer und Seelsorger, als Schulkommissär oder als politischer Zeitbeobachter - versteht, wird auch klar, wo er seine Stoffe herhatte.»

Und gleichzeitig erhält Gotthelf so seine schriftstellerische Vielfalt zurück. Zu wenig ist bislang wahrgenommen worden, dass Gotthelf in einer ausserordentlich dynamischen Phase der Schweizer Literatur- und Mediengeschichte schrieb, in der Autoren mit unterschiedlichem sozialem, politischem und konfessionellem Hintergrund die Formen der Predigt, des Kalenders, der Flugschrift und des Zeitungsartikels nutzten, um ihre Anliegen zu vermitteln. In dieser Zeit wurde Demokratie nicht zuletzt im Medium der Literatur eingeübt. Gotthelf war also nicht der einsame Rufer - er stand ganz im Gegenteil mitten in einer sehr bewegten politischen Textlandschaft.

Auch die Entstehung der Texte soll wieder entschleiert und sichtbar gemacht werden. Was die Edition der «Sämtlichen Werke» ansatzweise geleistet hat, wird in der neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe fortgesetzt. Der Weg vom handschriftlichen Entwurf über den Erstdruck bis zu späteren Bearbeitungen soll nachvollziehbar werden. Thomas Richter, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Predigt- und Kalenderprojekt, bietet dazu einführende Proseminare in Editionsphilologie an - eine Wissenschaft, die heute an vielen Universitäten verschwunden ist.

Einblick in die Schreibwerkstatt

Doch die Editionsarbeit muss unbedingt eine Zukunftsperspektive haben. Denn jene StudentInnen, die sich jetzt für das Germanistikstudium entscheiden, sollen in einigen Jahren die begonnene Arbeit weiterführen: «Meiner Erfahrung nach finden die StudentInnen das Entziffern von Handschriften eine sehr spannende Aufgabe», sagt Richter. Man kann Gotthelf wohl kaum näher sein als beim Wühlen in seinen Handschriften. Dass solche Forschung eine mitunter begeisternde und sehr sinnliche Angelegenheit ist, lassen Richters Schilderungen spüren.

Ebenso wichtig ist die Rekapitulation von Gotthelfs eigenen Lektürevorlieben. Bitzius hat enorm viel zeitgenössische Literatur verschlungen, auch wenn er sich nach aussen eher als Volksschriftsteller inszenierte und seine Quellen nicht offenlegte. So hatte ihn zum Beispiel Sir Walter Scott, der schottische Autor des Ivanhoe, stark in seinen Bann gezogen und sein Schreiben, besonders in den kleineren Erzählungen, geprägt.

So weit der grosse Plan. Gotthelf ist gewissermassen noch einmal neu und gegen den Strich zu lesen, wie es Peter von Matt, der grosse Literaturkenner der Schweiz, sinngemäss ausgedrückt hat. Mit dem wissenschaftlichen Blick der neuen Ausgabe sollte es möglich sein, Gotthelf aus seinem sperrigen Emmentaler «Chischtli» in die grosse Welt zu hieven - dorthin, wo er hingehört.

Als 1837 Eichendorffs Zauberwort «Schläft ein Lied in allen Dingen ...» gerade hinter der letzten, schon etwas fahl gewordenen Abenddämmerung der Romantik verpufft war, erschienen fast zeitgleich Büchners berühmter «Woyzeck» und Gotthelfs «Bauernspiegel» auf der literarischen Bühne. In von Matts «Die tintenblauen Eidgenossen» ist nachzulesen, wie die romantischen Blumen, Nachtigallen und anderen Zaubergeräte vergraben wurden, damit sich eine neue Sprache und ein neuer Blick in der Literatur etablieren konnten. Gotthelf hat diesen neuen Blick - diagnostisch, prophetisch, mitunter sehr böse und enthüllend, aber mit ehrlicher pädagogisch-ethischer Absicht - ganz wesentlich mitgeformt.

Im Idealfall müsste uns Gotthelf noch einmal ganz fremd werden, fast schon exotisch. Dann könnten wir ihn noch einmal so lesen, wie er um 1850 in Berlin gelesen wurde: als Sensation. Gotthelf neben Keller, Heine und Stifter. Das wäre doch ein Ziel.

Der ganze Gotthelf

Die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf ist das derzeit grösste Editionsprojekt im deutschen Sprachraum. Die Wirkung Gotthelfs soll aus seinen vielfältigen Tätigkeitsbereichen heraus erforscht und die entsprechenden Texte sorgfältig kommentiert zugänglich gemacht werden.

Das Werk des Berner Pfarrers, Dichters und politischen Zeitbeobachters soll auch in Zukunft einer breiten Leserschaft präsent sein. Unter der Leitung von EditionsspezialistInnen der Universität Bern und in Zusammenarbeit mit Gotthelf-SpezialistInnen anderer Universitäten sowie mit RegionalhistorikerInnen wird in einem Zeitrahmen von rund dreissig Jahren eine etwa 67 Bände umfassende Gesamtausgabe publiziert. Der handschriftliche Nachlass Gotthelfs wird überhaupt erstmals vollständig ausgewertet.

Der vorläufige Editionsplan sieht zunächst die beiden Teilprojekte A (politische und pädagogische Publizistik) und B (Predigten und Kalenderschriften) vor. Teil A wird Ende dieses Jahres, Teil B im Oktober 2008 abgeschlossen sein. Gemäss dem Beschluss des Stiftungsrates der Jeremias-Gotthelf-Stiftung wird die Edition in einer wissenschaftlichen Bibliotheksausgabe erfolgen, günstigere Teilausgaben sollen nach und nach folgen. Das Projekt wird auch Grundlage einer Schuledition sein, die bestenfalls schon in etwa fünf statt erst dreissig Jahren vorliegen wird.