Von oben herab: Eigentlich möchte …
… Stefan Gärtner das gar nicht kennenlernen

Von Peter Bichsel war mir hauptsächlich der lang vergangene Abend im Frankfurter Polit- und Vorlese-«Club Voltaire» in Erinnerung, an dem Kollege Oliver Maria Schmitt eine Parodie von «Ein Tisch ist ein Tisch» vortrug, und da meine Lesefaulheit zwar eher zu-, meine Begeisterung fürs Bücherkaufen aber darum nicht abnimmt, habe ich mir, als Bichsel gestorben war, sogleich «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» bestellt.
Und war enttäuscht. Denn Literatur, die mir etwas verkaufen will, finde ich fad, und natürlich weht aus den lakonisch-verrutschten Miniaturen die Einladung, den Alltag auf seine Abgründe zu untersuchen, und dass der aber Abgründe hat, kann man doch genauso wissen, wie dass der Tisch nur aus Verabredung «Tisch» heisst. Einleuchten wollte mir immerhin das Schlussstück «Erklärung», wonach Schnee schön, aber zugleich lästig ist, und das stimmt ja auch.
Bevor sich nun aber die Briefspalte mit Fanprotesten füllt, lasse ich sogleich die Mitteilung folgen, wie begeistert ich dann von Bichsels letztem Kolumnenband «Über das Wetter reden» war. Es war Sonntag, ich lag auf dem Bett, von wo aus ich diesen stillen Blick auf Bäume und Wetter habe, und genoss die Art des Kollegen, über nichts und alles zu reden, weil sie meine Klischeevorstellung von der guten Schweiz bedient: bedachtsam, bauernschlau, zugleich unter und über den Dingen stehend. Und sicher bin ich für Bichsels Altersweisheit (und er ist, stelle ich mir vor, sein Lebtag altersweise gewesen) auch mittlerweile anfällig, aber das macht ja nichts, wenn der Reiz am Handy ist, dass es funktioniert, oder wenn Bichsel schreibt, er lebe gern in seiner Zeit, er habe ja auch keine andere, sei jedoch froh, eine frühere noch erlebt zu haben. Unterschreibe ich sofort, aber das tun womöglich alle, die vom Ende weniger Strecke trennt als vom Beginn.
Vermutlich ist es auch der Reiz der KI, dass sie funktioniert. Mir ist sie ganz und gar gleichgültig, Feuilletonbeiträge zum Thema nehme ich nicht zur Kenntnis. Das ist, versteht sich, Abwehr, denn das Zeitalter der künstlichen Intelligenz ist längst angebrochen, und es wird sich damit verhalten wie mit Bichsels Schnee: tolle Sache, aber unfallträchtig. Künstliche Intelligenz, sah ich neulich in einer linear ausgestrahlten Gesundheitssendung im TV, in die ich immerhin noch ganz zufällig geraten war, reduziert bei Prostatakrebs die Bestrahlungszeit deutlich; gleichzeitig wird es so sein, dass KI die Digitalwelt noch weniger entrinnbar machen wird, als sie es eh schon ist. Das wird sich nicht ändern lassen, weshalb wir uns lieber auf die Chancen durch KI konzentrieren wollen, wie sie zweifellos im «Geheimprojekt» liegen, in dem der Schweizer Bundesrat, verrät mir der «Tagi», die KI auf «Anwendungsmöglichkeiten» testet: «Wirtschaftsminister Guy Parmesan kann ein englischsprachiges Memo im Nu ins präferierte Französisch übersetzen lassen. Aussenminister Ignazio Cassis kann die KI darum bitten, eine schwerfällige Passage einer Rede etwas lockerer zu formulieren. Und Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider hat eine neue Möglichkeit, zu kontrollieren, ob die AHV-Prognosen plausibel sind.» Der Fingerzeig, dass meine Texte KI-frei sind, ist es hoffentlich.
Vor zwei Wochen war ich auf der Beisetzung meiner Patentante, und der Rede der Pfarrerin hätte ein bisschen KI wirklich gutgetan, und das ist dann meine professionelle Deformation, dass ich sofort denke, hier hätte man doch schön einhaken und ein bisschen Feuilleton treiben können, wo das Abschiedslied nun wirklich Frank Sinatras «My Way» war. Eigentlich der totale Kitsch, das bei einer Beerdigung zu spielen, und ob es nun gerade darum so rührend war oder trotzdem oder ob sich das gar nicht entscheiden lässt, wäre direkt wieder eine Bichsel-Frage.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.