Von oben herab: Welt am Draht

Nr. 29 –

Stefan Gärtner über wichtige Gespräche am heimischen Herd

Die «gute» alte Konferenz ist out, die Videokonferenz ist in: Coronabedingt muss, wer mitreden will, sich vor dem Schirm mit anderen zusammenschliessen, sich «aufschalten», wie die SRF-«Tagesschau» in einem Bericht über den fleissigen Bundesrat mitteilte, der sich von Corona nicht die Freude an der lebhaften Diskussion mit der Europäischen Union verderben lässt. Die Schweiz mithin «am virtuellen Verhandlungstisch der EU»: «Neun Uhr früh im Bundeshaus West: Bundesrätin Karin Keller-Sutter trifft sich mit dem deutschen Innenminister Horst Seehofer», aber nicht im Bundeshaus West, sondern per Computer. Sogar abends «am Küchentisch» will sich Keller-Sutter auf Seehofer draufgeschaltet haben, «das war einfach so, jeder war einfach in seinem Setting», und weils im heimatlichen Setting so schön ist, hat das «natürlich auch schon zu vielen Gesprächen geführt und auch Kontakten», eben mit Horst Seehofer, der, hört man, auf die abendlichen Aufschalten von und mit K. Keller-Sutter schon nicht mehr recht verzichten mag.

Die Schweiz (engl. Switzerland) also «online» (dt. «am Draht»), und auf Draht im Setting im Bundeshaus West auch Ueli Maurer, der «vergnügt mit London chattet» (SRF). Maurer, völlig wörtlich: «How are you in London, that’s okay?» Oh, it is so very, very okay, wie die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson dem Schweizer Fernsehen bewundernswert stoisch darlegte: «In diesen Videokonferenzen versuchen wir, die aktuellen Probleme zu lösen. Dabei ist die Schweiz ein wichtiger Partner, etwa bei der Lösung der Probleme an den verschiedenen Grenzen.» So leicht ist die Aufgabe einer EU-Kommissarin für Inneres nämlich nicht, gilt es doch, Missverständnissen jederzeit vorzubeugen: Es ist nämlich keinesfalls so, dass in den Videokonferenzen EU–Schweiz nicht versucht würde, aktuelle Probleme zu lösen; es ist auch unrichtig zu vermuten, es würden, nachdem Maurer fröhlich-vergnügt «What’s doing, motherfuckers?» gefragt hat, unaktuelle, uralte Probleme gelöst wie der Quatsch mit dem Frauenwahlrecht oder was eigentlich von diesem Herrn Napoleon zu halten ist. Es ist, drittens, falsch zu glauben, die Schweiz wäre ein unwichtiger Partner oder sogar eine völlig verzichtbare Partnerin, wenn die EU sich morgens in Brüssel am Terminal trifft, im Gegenteil! Geht es um aktuelle, der Lösung harrende Probleme im Grenzbereich und darüber hinaus, dann kann, wer will und Einlass kriegt, morgens ab neun im Bundeshaus (West Wing) folgende wichtige Persönlichkeiten der Schweiz beim vergnügten Politchat antreffen: Karin Keller-Sutter; Alain Berset; Ignazio Cassis; Ueli Maurer. Nicht anwesend: Guy Parmesan (verschlafen), Viola Amherd (am Herd, Gabelfrühstück), Walter Thurnherr (Computerkurs).

Jedoch: «Die Videokonferenz: Für Bundesrat Berset kann sie die persönlichen Treffen nicht ersetzen. In der Gesundheitskrise arbeiten Schweiz und EU eng zusammen, die institutionellen Probleme freilich, die bleiben.» Herbe Enttäuschung für alle Technikgläubigen, die geglaubt haben, die Videokonferenz könne die institutionellen Probleme auf Nimmerwiederluege aus der Welt hebeln! Vor allem Ueli Maurer hatte gehofft, in Zukunft «per Aufschalte» (Maurer) immer voll dabei zu sein und mitzumischen, und Karin Keller-Sutter kann nicht einfach persönlich Abend für Abend bei Seehofers auftauchen und am Küchentisch Platz nehmen, schon Seehofers Ehefrau wegen, die ebenfalls Karin heisst und nach wie vor «ein wichtiger Partner» (SRF) ist, ja sozusagen die Schweiz Horst Seehofers (EU).

Das Fazit kann und muss also lauten: Es gibt Probleme, es gibt aber auch Computer, und es gibt den Schweizer Bundesrat, der beides verstanden hat. Wenn dann noch das Schweizer Fernsehen kommt und ohne Weiteres zwei Minuten Blindbericht sendet, können die Schweiz und ich beruhigt in die Sommerpause gehen. Bis dann!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.