Von oben herab: Cheese!

Nr. 35 –

Stefan Gärtner lässt die KI roasten

Wenn Sie dies hier lesen, habe ich Geburtstag, und dass es ein höherer ist, merke ich daran, wie in jeder Hinsicht fern mir diese Zeilen aus «20 Minuten» sind: «Zurzeit lassen viele Social-Media-Userinnen und -User ihre Instagram-Profile von einer KI ‹roasten›. ChatGPT oder dafür kreierte Websites bewerten dann ihre Selfies, Ferienfotos und Captions unter den Bildern und belustigen sich auf Kosten des Nutzers.» Nein, Goethe ist das nicht mehr, von dem der wenig achtsame Satz stammt: «Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.» Dem Altmeister («Goethes Faust», «Werther’s Echte») würde es heute aber so gehen wie uns, wenn wir der Hotline ein Internetproblem melden: Da ist niemand mehr, jedenfalls niemand, den man im Ernst zur Rechenschaft ziehen könnte.

Selbstredend beschränken sich die Social-Media-Userinnen und -User nicht darauf, ihre eigenen Instagram-Profile roasten zu lassen. Das geht nämlich, wie sich denken lässt, auch äusserst gut mit den Selfies, Ferienfotos und Captions anderer, und zu Bundesrat Guy Parmesan, behauptet jedenfalls das untadelige journalistische Format «20 Minuten», ist der KI unter anderem dies eingefallen: «Du hast 11 977 Follower, und wenn man deine Beiträge anschaut, warten wohl die meisten nur darauf, dass du ein Meme oder Katzenvideo ablieferst. Ich meine, komm schon! Du gibst jungen Schweizern Karriereratschläge und siehst dabei aus, als wärst du gerade aus einer Zeitkapsel der 70er Jahre gestiegen!» Touché! «Im Moment sieht es so aus, als würdest du uns die professionelle Seite von Schweizer Käse zeigen – voller Löcher!» Ein Lernender im Wirtschaftsdepartement soll darauf Chat GPT um den Roast des Roasts gebeten haben: «Was soll dieses ‹Voller Löcher›-Wortspiel mit Schweizer Käse? Wirklich, das Beste, was dir einfällt, wenn du über einen Schweizer Politiker sprichst, ist ein alter Käsewitz?»

Da kann ich Chat GPT nur zur Hälfte beipflichten, indem ich einen alten Witz des legendären Witzduos Rattelschneck variiere: Ich habe nichts gegen alte Käsewitze, aber es gibt gute alte Käsewitze und schlechte alte Käsewitze. Während «Guy Parmesan» ein ganz hervorragender alter Käsewitz ist, ist «Die professionelle Seite von Schweizer Käse – voller Löcher!» ein mässiger alter Käsewitz, schon weil die zugrunde liegende Metapher ihre beste Zeit sehr lang hinter sich hat. «Die Piste gleicht einem Schweizer Käse», das sagt ja niemand mehr, ausser natürlich, wie sich durch Googeln leicht feststellen lässt, der Journalismus, der sich prinzipiell ungern von einmal angenommenen Gewohnheiten verabschiedet und, anders als die künstliche Intelligenz, grundsätzlich nur den Blödsinn lernt.

Kaum hat eins, um anzuzeigen, dass ein Abitur vorliegt, den Einfall gehabt: «Winterthur plant, einen Grossflughafen bauen zu wollen», modalisieren plötzlich alle ihre Infinitive, so wie sich ja längst auch kluge Leute damit abgefunden haben, dass man Dinge nicht mehr verstehen muss, sondern nachvollziehen kann, auch wenn ich nicht verstehe, was Winterthur mit einem Grossflughafen will. Höchste Zeit also, das ewige «nachvollziehen» einmal roasten zu lassen: «Das Wort ‹nachvollziehen› wird häufig verwendet, weil es eine präzise Möglichkeit bietet, auszudrücken, dass man etwas verstehen oder die Gedanken und Argumente einer Person nachvollziehen kann. Es vermittelt die Idee, dass man nicht nur die Informationen aufnimmt, sondern auch die Logik oder die Gründe hinter diesen Informationen erkennt.»

Meine Frau, die Philosophie lehrt, würde Chat GPT sicherlich eine gewisse Zirkularität der Argumentation ankreiden; aber dass es in unserer restlos technisierten, marktgerecht rationalen Welt darauf ankommt, die Logik zu erkennen, kann ja nur jemand kritisieren, der sich von der KI noch etwa unterscheiden will. Und sei es bloss durch die besseren alten Käsewitze.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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