Widerstand in Giessen: Generation Antifa

Nr. 49 –

Rund 50 000 Menschen stellten sich am Samstag der neuen AfD-Jugendorganisation entgegen. Das Protokoll eines Protesttags.

Diesen Artikel hören (9:24)
-15
+15
-15
/
+15
Demonstrant:innen vor einem Wasserwerfer in Giessen
Warnwesten im Nebel: Rund um Giessen haben Demonstrant:innen schon am frühen Morgen zahlreiche Strassen besetzt.

5.30 Uhr. Die Blaulichter lassen den dichten Nebel über der Landschaft aufleuchten. In der Ferne sind die Leuchtwesten derjenigen Demonstrant:innen zu erkennen, die es geschafft haben, die Polizeisperre zu durchbrechen. Von hier aus sind es über die Felder noch eineinhalb Kilometer bis zu den Hessenhallen.

Im Dorfzentrum von Heuchelheim, einer kleinen Ortschaft westlich von Giessen, versammeln sich letzten Samstag bereits in den frühen Morgenstunden Hunderte Menschen zum antifaschistischen Protest. Noch sind die Strassen Richtung Giessen offen. Ein junger Mann fährt vorbei, eine Deutschlandfahne in die Autotür geklemmt. Reisebusse mit Protestierenden kommen an. Zahlreiche Polizeiautos. Und plötzlich geht es schnell: Eine weitere Gruppe Demonstrant:innen steigt aus, die Menschenmenge rennt los. Ein Dutzend Polizist:innen drücken sich in der engen Dorfstrasse an ihnen vorbei, schlagen mit Knüppeln gegen Rippen und auf Köpfe. «Wir sind friedlich, was seid ihr?», hallt es ihnen durchs Dorf entgegen.

In den Hessenhallen, dem Messezentrum von Giessen, will sich an jenem Tag die neue AfD-Jugendorganisation gründen. Als die – inzwischen selbst vom Verfassungsschutz als «gesichert rechtsextrem» eingestufte – Alternative für Deutschland (AfD) Anfang Jahr der «gesichert rechtsextremen» Vorgängerorganisation Junge Alternative den Rücken kehrte, löste sich diese auf. Mit neuem Namen, neuen Statuten und den gleichen Köpfen soll sich die AfD-Jugend nun als «Generation Deutschland» strategisch neu positionieren. Sie dient als Kaderschmiede der Partei, baut mit ihren Verbindungen in die militante Neonaziszene eine Brücke zwischen parlamentarischer Politik und Strasse. Fast 2000 Gründungsmitglieder werden in Giessen erwartet – und als Gäste: AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel, Thüringens faschistischer Parteichef Björn Höcke und der völkische Verleger Götz Kubitschek.

«Wo wart ihr in Hanau?»

6 Uhr. In der Giessener Innenstadt versammeln sich Zehntausende zu einer bewilligten Demonstration. Das bundesweite Aktionsbündnis Widersetzen hat zu den Protesten aufgerufen. Es besteht aus über achtzig Lokalgruppen, Gewerkschaften, Organisationen und NGOs. Erik Neuwirth ist Krankenpfleger am Uniklinikum Giessen und Gewerkschafter. Für ihn steht fest: Wenn die AfD mehr Abschiebungen fordert und selbst hier Geborene unrechtmässig aus dem Land drängen will, zielt das auch auf die Teams in den Kliniken und das ohnehin kaputtgesparte Gesundheitssystem. «Wir würden Tausende dringend benötigte Kolleg:innen verlieren», sagt Neuwirth. «Und dann?»

9 Uhr. Noch eine Stunde, bis die AfD-Jugend-Veranstaltung beginnen soll. Im Saal der Hessenhallen sind nur die ersten Reihen gefüllt – statt 2000 Personen sind nur 200 anwesend. Dafür verantwortlich: die 15 000 Menschen, die an sechzehn Verkehrspunkten die Zufahrt zu den Hessenhallen blockieren, zum Beispiel an der Bundesstrasse 49 südlich von Giessen. Dort umstellt die Polizei rund tausend Demonstrant:innen und droht mit dem Einsatz der zwei bereitstehenden Wasserwerfer, als am Horizont der leeren Bundesstrasse ein weiterer Demonstrationszug auftaucht.

«Generation Antifa» steht auf dem grünen Frontbanner, mehrere Hundert Personen bewegen sich auf die Blockade zu. Innert Kürze stürmen die Polizist:innen auf sie los – mit eingehakten Armen versuchen die Demonstrant:innen, dagegenzuhalten. Aus teils einem knappen Meter Distanz versprühen die Beamt:innen Pfefferspray, schlagen mit Knüppeln und blossen Fäusten auf die Köpfe der Demonstrierenden, treten nach ihnen, prügeln sie über die steile Böschung von der Bundesstrasse hinunter. Auf dem Mittelstreifen versorgen Demosanitäter:innen die zahlreichen Verletzten. Feministische Trommler:innen, pink gekleidet mit Perücken, Bärten und Röcken, schreien mit aller Kraft den Polizist:innen entgegen: «Wo, wo, wo wart ihr in Hanau?»

Portraitfoto von Hatice Korkmaz
Hatice Korkmaz: «Als Enkelin von Migrant:innen ist Widerstand für mich alltäglich, um hier zu überleben.»

Der Täter von Hanau hatte sich zwei Tage vor seinem rassistischen Attentat am 19. Februar 2020 online eine Rede von Björn Höcke angeschaut – und Worte in Taten umgesetzt. In einer Grussbotschaft an die Demonstrant:innen in Giessen sagt Çetin Gültekin: «Euer massenhafter Widerstand macht uns Mut!» Sein Bruder Gökhan Gültekin und acht weitere junge Menschen wurden damals in Hanau erschossen. Auch Hatice Korkmaz, Sprecherin des Aktionsbündnisses Widersetzen, haben die Morde von Hanau politisiert. Seitdem hilft sie mit, die jährlichen Gedenkveranstaltungen zu organisieren, und schafft mit dem Migra-Space Giessen einen sichereren und ermächtigenden Ort für die Community. Trotzdem hat Korkmaz Angst vor der steigenden rechten Gewalt, besonders seit ihr nahes Umfeld betroffen ist.

Mitte Oktober wurden in Wetzlar, der Nachbarstadt von Giessen, drei von Migrant:innen geführte Lokale angegriffen. «Die Betroffenen vermuten Rassismus», vermeldete die «Wetzlarer Neue Zeitung». Eines der Restaurants wird von der Familie einer langjährigen Freundin von Hatice Korkmaz betrieben. «Es fing mit Beschmierungen und Drohungen von Neonazis an», erzählt sie. «Dann wurde ein Zelt vor einem der Lokale angezündet.» Die Neonazis sollen auch versucht haben, einen Brand im Restaurant der mit Korkmaz befreundeten Familie zu entfachen; nur dank Videoüberwachung habe diese das Feuer noch verhindern können. Auf eines der Lokale habe eine auf einem Roller vorbeifahrende Person zehn Mal mit einer Luftdruckwaffe geschossen.

Die Zahl der in Deutschland erfassten rechten Gewalttaten erreichte vergangenes Jahr einen Höhepunkt: 1488 Taten – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, wobei Opferberatungsstellen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Für Korkmaz ist antifaschistische Organisierung deshalb auch Selbstverteidigung. «Als Enkelin von Arbeitsmigrant:innen», sagt sie, «ist Widerstand für mich alltäglich, um in diesem Land zu überleben.»

Auto fährt in Menschenmenge

12.30 Uhr. Laut Polizei sind die letzten Teilnehmenden in den Hessenhallen eingetroffen, die Gründungsveranstaltung von Generation Deutschland beginnt – mittlerweile sind etwa 800 Personen im Saal. Erst prügelte die Polizei den Weg frei, dann eskortierte sie die Reisebusse der AfD-Jugend zur Halle. Die Blockade auf der Bundesstrasse 49 ist mit Tausenden Litern Wasser bei winterlichen fünf Grad geräumt worden. Als eine Demonstrantin ihre nach Luft ringende Freundin in Sicherheit zu bringen versucht, kommentiert ein Polizist: «Sollen sie halt nicht an eine Demo gehen, wenn sie Panikattacken kriegen.»

Ein Video, das online kursiert, zeigt denn auch Polizeitruppen, die mit Schlachtrufen auf eine ruhige Menschenmenge zurennen, bevor sie mit Knüppeln auf diese einprügeln. Bei der Blockade in Lahnau-Atzbach, westlich von Giessen, fährt ein Auto von mutmasslich Jung-AfDler:innen direkt in eine Gruppe von gut zehn Protestierenden hinein. Eine Person wird laut dem Widersetzen-Bündnis mitgeschleift und verletzt. Später postet die AfD Berlin ein Video in den sozialen Medien, das aus dem Innenraum des Wagens aufgenommen wurde.

14 Uhr. 5000 Protestierende schaffen es zwischenzeitlich bis in unmittelbare Nähe der Hessenhallen – und das, obwohl an diesem Tag etwa 8000 Polizist:innen mit Hubschraubern, Drohnen, Pferden, Hunden, Booten, Räumungspanzern und Wasserwerfern aus dem gesamten Bundesgebiet im Einsatz sind. «Wir prügeln nicht auf Menschen ein», wird der Polizeisprecher später gegenüber der «Hessenschau» sagen, «wir setzten keine Polizeigewalt ein.» Hessens Innenminister Roman Poseck wird im Nachgang den Einsatz loben: Ohne Polizei wäre es zu «bürgerkriegsähnlichen» Zuständen gekommen.

17 Uhr. Die letzten Protestierenden kehren zurück in die Giessener Innenstadt – die Blockaden sind inzwischen aufgelöst. Viele sind seit bald fünfzehn Stunden auf den Beinen, sind kilometerweit gelaufen, haben stundenlang auf Blockadeposten gesessen. Trotzdem ist die Stimmung gut – geradezu ausgelassen. Das Aktionsbündnis Widersetzen spricht von der grössten antifaschistischen Blockadeaktion in der Geschichte der heutigen Bundesrepublik. «Das gibt mir Kraft für alles, was noch kommen wird», sagt Sprecher Suraj Mailitafi und fügt hinzu: «Denn mit diesem Wochenende ist es nicht getan.» Das Bündnis bereitet sich bereits auf den AfD-Parteitag 2026 in Erfurt vor.