Polizeigewalt in Bern: «Noch nie so viel Blut gesehen»

Nr. 46 –

Über 30 000 Gummigeschosse feuerte die Kantonspolizei am 11. Oktober in Bern ab, Demosanitäter:innen behandelten 326 verletzte Personen: Die Aufarbeitung der Palästina-Grossdemonstration hat erst begonnen.

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Demonstrant:innen schützen sich mit einem Schild vor dem Strahl des Wasserwerfers
Schutz vor dem Strahl des Wasserwerfers: Demonstrant:innen am 11. Oktober. Foto: KFK

Die Demonstrierenden wollten weitergehen – weiter als die 400 Meter vom Berner Bahnhof zum Bundeshaus. Zielstrebig versuchten die Protestierenden an der Spitze, den Bundesplatz über die Amthausgasse zu verlassen. Doch diese war durch eine Baustelle verengt und am Ende von zwei Gitterwagen und Polizist:innen in Vollmontur abgesperrt.

Hanna, Elisa, Jana, Kiro und Nina* liefen unabhängig voneinander mit der Demonstration in Richtung Polizeisperre. Kurz darauf richtete die Polizei den Wasserwerfer auf die Demonstrierenden, schoss Reizgas und Gummischrot in die Menge. Als Antwort flogen Steine, Flaschen und Farbballone in Richtung Polizei. Die Situation sei chaotisch gewesen. «Auf dem Weg sah ich zwei Personen, die am Kopf bluteten», berichtet Jana. Hanna wiederum liefen zweimal Personen entgegen, die eine:n bewusstlose:n Demonstrant:in wegtrugen. Auch sie half mit, eine verletzte Person zu versorgen. Und Elisa sah, wie die Menschen vom Reizgas husteten, weinten, sich übergeben mussten.

«Ungezügelte Brutalität»

Die WOZ hat im vergangenen Monat mit insgesamt zehn Demonstrant:innen darüber gesprochen, was an jenem Samstag in Bern passiert ist. Am 11. Oktober, als sich gut 8000 Menschen zu einer vielfältigen Grossdemonstration ohne Bewilligung versammelten – gegen den Horror in Gaza und für die palästinensische Unabhängigkeit. Seither werfen 46 Organisationen in einer gemeinsamen Medienmitteilung den Polizeikräften «ungezügelte Brutalität» vor. Eine Delegation der Demokratischen Jurist*innen Bern (DJB) sowie Vertreter:innen von Amnesty International beobachteten das Geschehen vor Ort.

«Nachladen, wieder aufstehen, von oben in die Menge schiessen», beschreibt Kiro das Vorgehen der Polizei. Videoaufnahmen zeigen, wie sich Polizist:innen auf Gitterwagen postierten, um mit Granatwerfern Gummigeschosse in die Menge hinabzuschiessen. Kiro schildert, wie er von einem sogenannten Wuchtgeschoss an der Hand getroffen wurde und einen Finger mehrere Wochen nicht richtig bewegen konnte. Elisa traf ein Gummiprojektil am Kopf, sie erlitt eine Platzwunde und ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Auch um sie herum hatten Menschen Verletzungen am Kopf. Noch nie habe sie bei einer Demonstration so viel Blut gesehen, sagt sie.

Wuchtgeschoss und Gummiprojektil der Berner Polizei
Wuchtgeschoss (links) und Gummiprojektil 
der Berner Polizei.
Foto: «Republik»

Als die Ersten der Demonstration auf den Bundesplatz zurückkehrten, wurde laut geklatscht. «Die Leute haben sich nicht einschüchtern lassen», sagt Jana. Die Tausenden Demonstrant:innen stimmten Parolen an – «Tout le monde déteste la police» (Die ganze Welt hasst die Polizei), «Shame on you» (Schämt euch) –, dem Bundeshaus und der Polizei entgegen. Die Scheiben der UBS-Filiale am Bundesplatz lagen in Scherben. Die Grossbank investiert in Rüstungskonzerne wie Elbit, die Waffen an die israelische Armee liefern.

Schliesslich bewegte sich die Demonstration, wie von der Polizei per Durchsage angeordnet, über die Schauplatzgasse zurück zum Bahnhofsplatz. Auf dem Weg befanden sich laut den DJB viele Passant:innen. Am Ende der Gasse stellte sich eine Reihe Polizist:innen mit Wasserwerfer auf, die Demonstrant:innen liefen weiter. Daraufhin soll die Polizei laut den DJB ohne Ankündigung aus etwa fünf Metern Entfernung mit Gummischrot auf die Menge geschossen haben. Mehrere Verletzte meldeten sich kurz darauf bei den Beobachter:innen der DJB.

Elf Stunden im Kessel

Es folgten ein Wasserwerfereinsatz, Gummischrot – Panik brach aus, die Leute versuchten wegzurennen. Doch die Polizei trieb einen Keil in die Menge, kesselte die vorderen Demonstrant:innen ein. Kiro berichtet, wie er dabei an eine Hauswand gedrückt worden sei, woraufhin ihn Polizist:innen mit Schlagstöcken geprügelt hätten. «Es herrschte pures Chaos im Kessel», sagt Hanna. «Ich wurde so zusammengedrückt, ich bekam kaum Luft.» Videos zeigen, wie die Polizei aus wenigen Metern Distanz Gummischrot auf den Kessel schiesst, Demonstrant:innen von aussen Barmöbel und Farbballone in Richtung Polizei werfen.

Laut der Berner Kantonspolizei wurden an dem Tag 536 Personen eingekesselt. Darunter: Hanna und Nina. Sowie mitunter: Passantinnen, Touristen und lokale Journalist:innen. Über die Hälfte der Eingekesselten sei nicht vermummt gewesen, schildert Nina. Auch Sachbeschädigungen seien lediglich von einem Teil der Menge ausgegangen. (Am folgenden Tag wird die Berner Kantonspolizei von einem Sachschaden in Millionenhöhe schreiben, die «Republik» von «vielen Sprayereien an Häuserfassaden sowie eingeschlagenen Scheiben – zum grössten Teil Bankfilialen sowie ein paar Geschäfte».)

Aus polizeilicher Sicht bestehe ein berechtigtes öffentliches Interesse, auch Personen festzuhalten, von denen keine Gefahr ausgehe, erklärt Lena Portmann, Kogeschäftsleiterin der DJB. «Dafür muss nicht jede Person im Kessel eine Straftat begangen haben.» Es stelle sich jedoch die Frage, ob die Art und Weise der Einkesselung erforderlich und zumutbar gewesen sei. Dafür müsse im Einzelfall die Verhältnismässigkeit geprüft werden. «Doch damit Gerichte eine solche Prüfung vornehmen», so die Juristin, «braucht es Beschwerdeführende, die das Vorgehen der Polizei zur Anzeige bringen.»

Laut Hanna und Nina setzte die Polizei über Stunden immer wieder Reizgas und Pfefferspray im Kessel ein. Nina berichtet von mehreren Personen, die eine Panikattacke erlitten. Ebenfalls beobachtete sie, wie Demosanitäter:innen eine bewusstlose Person aus dem Kessel trugen. Hanna erinnert sich an eine Person, die aufgrund des vielen Pfeffersprays kaum atmen konnte. Zu dem Zeitpunkt habe es jedoch im Kessel keine Demosanitäter:innen mehr gegeben – nachdem diese Verletzte zur Ambulanz gebracht hätten, seien sie selbst verhaftet worden.

Die Einkesselung dauerte von kurz nach 17 Uhr bis 4 Uhr morgens. Anschliessend wurden die Demonstrant:innen in der Gefangenensammelstelle Neufeld über weitere Stunden festgehalten – teils bis um halb sieben am Morgen. Während der elf Stunden im Kessel hätten sie weder Wasser noch Essen oder Decken erhalten, sagen Hanna und Nina. Zudem habe die Polizei zwar Toi-Toi-WCs zum Kessel transportiert, doch diese seien – entgegen den Aussagen der Polizei – nur für Polizist:innen zugänglich gewesen. In der Sammelzelle musste Hanna dringend ihren Tampon wechseln. Sie habe zwar einen erhalten, in der Zelle gab es jedoch kein fliessend Wasser – und Hannas Hände waren noch immer voller Reizgas. «Ich kriegte keine Luft mehr, konnte kaum ein Wort sagen», sagt sie. «Ich habe noch nie solche Schmerzen verspürt.»

Ausserhalb des Kessels blieben Tausende Demonstrant:innen bis in die späten Abendstunden auf dem Bahnhofsplatz, riefen Parolen, hielten Reden. «Wir waren alle nass, teils verletzt und doch bis in die Nacht da», sagt Elisa. «Wir wollten die Menschen im Kessel nicht alleinlassen.»

Janis war mit einer Freundin vor Ort. Ein Gummiprojektil sei auf ihn zugeflogen, berichtet er, direkt auf sein Auge. Der Aufprall habe das Sichtfeld seiner Schutzbrille komplett eingedrückt, bevor die Brille wegflog. Janis’ Freundin wurde kurz darauf am Schienbein getroffen und erlitt eine Rissquetschwunde, die stark blutete. Kiro wurde im Gesicht getroffen, seine Lippe platzte auf. Lino hatte wiederum eine Werbetafel zum Schutzschild umfunktioniert, um den Strahl des Wasserwerfers aufzuhalten, als ihn ein Wuchtgeschoss an der Hand traf – ein komplizierter Bruch, Lino musste später operiert werden.

Eva wollte sich von der Demonstration entfernen. Dabei wurde ihr Freund von Gummischrot getroffen – ein Projektil traf sein Auge (siehe WOZ Nr. 42/25). Die beiden gingen hilfesuchend in Richtung Polizei, doch diese habe erneut mit Gummischrot geschossen. Schliesslich seien ihnen fünf Demonstrant:innen zu Hilfe geeilt, die sich um sie herumstellten und sie so vor weiteren Schüssen abschirmten, berichtet Eva. Die Augenverletzung muss nun operiert werden – die Netzhaut löst sich ab, ihr Freund könnte auf dem Auge erblinden.

Knapp eine Woche nach der Grossdemonstration veröffentlichten selbstorganisierte Demosanitäter:innen einen Bericht über das Ausmass der Polizeigewalt: Sie versorgten insgesamt 326 verletzte Demoteilnehmer:innen und Passant:innen, heisst es darin. 18 Personen erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma, 3 Personen Augenverletzungen, 21 waren ohnmächtig geworden.

Die Kantonspolizei Bern spricht von 18 verletzten Einsatzkräften, die Knalltraumata, Prellungen und Rissquetschwunden erlitten. Verletzte Demonstrant:innen zählt sie lediglich 2. Dies bei einem Einsatz von – nach eigenen Angaben – 25 000 Litern Wasser, wovon 12 000 Liter mit Reizgas versetzt waren; mindestens vierzehn Litern Pfefferspray; rund zehn Tränengasgranaten sowie 320 Wuchtgeschossen und gut 1100 Munitionspackungen Gummischrot – demnach 30 800 einzelnen Schrotgeschossen.

Mit den Berichten der Demonstrant:innen konfrontiert, weist die Sprecherin der Berner Kantonspolizei die Vorwürfe zurück. Die Polizei habe ihre Fürsorgepflicht bei der Einkesselung nicht verletzt. Derweil sei «massive Gewalt» gegen die Polizist:innen ausgeübt worden, «weswegen viele Mitteleinsätze aufgrund von Notwehr oder Notwehrhilfe» erfolgt seien. «Dabei», heisst es in der Stellungnahme weiter, «muss zum Teil auch von den üblicherweise bestehenden Richtlinien abgewichen werden.»

«Das staatliche Gewaltmonopol»

Das Gummischrot und die viel grösseren, doppelt so schnellen Wuchtgeschosse, die Kiro und Lino trafen, werden mit dem neusten Granatwerfer der Schweizer Polizeien verschossen: dem GL06, produziert in Thun vom Schweizer Waffenproduzenten B&T. Laut der Berner Polizei wurden am 11. Oktober hundert GL06-Werfer mitgeführt. Mit der Aufrüstung auf den neuen Werfer hat sich die nötige Mindestdistanz verkleinert: Während die Polizist:innen zuvor angehalten waren, mindestens einen Abstand von zwanzig Metern einzuhalten, dürfen sie mit den neuen Werfern bereits aus fünf oder zehn Metern Distanz schiessen.

Evas Freund wurde von einem kleinen, sechskantigen Gummiprojektil der Firma Saltech getroffen, das nur die Berner Polizei im Inventar hat. Es ist kleiner und härter als übliches Gummischrot und kommt in Munitionspackungen, bei denen 28 Geschosse gleichzeitig abgefeuert werden. Das «Schweizer Waffen-Magazin» schrieb 2008 dazu: Es dürfte «ganz angriffslustigen Demonstranten schmerzlich in Erinnerung rufen, was man sich so unter einem staatlichen Gewaltmonopol vorzustellen hat».

Die Augenärztin Anna Fierz beschäftigt sich mit Augenverletzungen durch Gummigeschosse. «Die Schweizer Streumunition ist ein Unikum», sagt sie. «Soweit bekannt, wird diese in keinem anderen westeuropäischen Staat eingesetzt.» Bei den neueren Granatwerfern wie dem GL06 reduziert sich durch den kleineren Streukreis zwar das Risiko für Dritte, jedoch steigt das Risiko für Mehrfachverletzungen bei der «Zielperson». Im schlimmsten Fall heisst das: eine beidseitige Augenverletzung. Mehrere unabhängige Quellen berichteten, dass an der Demonstration in Bern mindestens eine Person durch den kleineren Streukreis gleich drei Platzwunden am Kopf erlitt.

Die Aufarbeitung der Grossdemonstration am 11. Oktober hat erst begonnen. Amnesty International wertet derzeit über 200 Zeug:innenberichte aus, die Erkenntnisse werden in den kommenden Wochen publiziert. Derweil dürften auf den Berner Kessel Hunderte Strafverfahren folgen. Das ist ein Ausmass wie zuletzt höchstens 2018 nach «Basel Nazifrei»: Auf den grossen antifaschistischen Protest folgten etliche Hausdurchsuchungen, Vorladungen und rund sechzig Verfahren mit heftigen Strafen – woraufhin sich eine breite Solidaritätsbewegung organisierte.

* Alle Namen der Demoteilnehmenden in diesem Artikel wurden von der Redaktion geändert.