Nach ihm die Sintflut

Le Monde diplomatique –

Wenige Wochen nach Macrons Einzug in den Élysée-Palast fasste einer seiner Vertrauten, Jean-Louis Bourlanges, heute Präsident der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten in der Nationalversammlung, die künftige Leitlinie der Wirtschafts- und Sozialpolitik folgendermaßen zusammen: „Objektiv brauchen wir für die Probleme des Landes Lösungen, die den hohen Einkommen zugutekommen.“ Gleich bei der nächsten Gelegenheit zeigten die so Bevorzugten ihre Dankbarkeit für den Wohltäter: 2022 stimmten 48 Prozent der Reichsten im ersten Wahlgang für den amtierenden Präsidenten – ein Zuwachs von 14 Prozent im Vergleich zu Macrons erster Kandidatur 2017.

Wenn die Linke am Ruder war, hat sie ihre Wählerschaft selten mit so viel Bravour befriedigt.

Auch bei den Wählerinnen und Wählern über 65 Jahre ist Macrons Popularität zwischen den beiden Wahlen gewachsen. Man kann also den „Mut“ ermessen, an dem sich Macron berauscht, wenn er das Land von einer „Rentenreform“ überzeugen will, deren Opfer vor allem die Gesellschaftsschichten sind, die ohnehin mehrheitlich gegen ihn gestimmt haben.

Dass hier eine soziale Errungenschaft infrage steht, wird das Kapital ebenso wenig jucken wie die reichsten Rentner. Für die französischen Arbeiter:innen haben die zwei zusätzlichen Arbeitsjahre hingegen sogar eine lebenswichtige Bedeutung. Auch wenn ihre Lebenserwartung in den letzten 20 Jahren gestiegen ist, sterben sie auch bei guter Gesundheit im Durchschnitt immer noch 6 Jahre früher als ihre angestellten Führungskräfte.

Für diejenigen, die ohnehin ausgenutzt, ausgelaugt und erledigt werden, verschiebt sich die Ziellinie also erneut nach hinten. Die Zeit für Erholung, private Pläne oder ehrenamtliches Engagement wird erneut von der Arbeit aufgefressen. Und warum? Weil die Regierung nicht nur nichts gegen den Verfall von Krankenhäusern und Schulen unternimmt, sondern obendrein noch „die Last der Rentenausgaben“ verringern will. Derweil gehen die Militärausgaben durch die Decke – laut dem Verteidigungsministerium werden sie sich von 2017 bis 2030 verdoppelt haben. Diese Politik ist so erbärmlich, dass anders als im Winter 1995 sogar einige der Macron-freundlichsten Medien (vorübergehend) die Waffen strecken mussten.

Ministerpräsidentin Borne will zwar nicht aufgeben, sorgt sich aber, dass man damit Wasser auf die Mühlen des Rassemblement National kippt. Der Staatspräsident macht sich hingegen gar keine Sorgen. „2027 kandidiere ich nicht mehr“, erklärte Macron im Dezember, „also bin ich auch nicht für das verantwortlich, was dann kommt.“

Die Nachwelt kann also aus seiner arroganten Präsidentschaft getrost in Erinnerung behalten, dass er Marine Le Pen als Steigbügelhalter diente. Wenn Emmanuel Macron sich in den kommenden Wochen bei den Rechten und bei der Europäischen Kommission seine Sporen als Reformer verdient, kann er dann in Davos oder Katar schwadronieren und auf einen Chefposten bei Uber, Netflix oder einer großen internationalen Geschäftsbank hoffen.

Serge Halimi