Rentenproteste in Frankreich: Der Präsident auf dem Scherbenhaufen
Ein Jahr nach seiner Wiederwahl und nach drei Monaten mit heftigen Protesten gegen seine Rentenreform ist Emmanuel Macron weitgehend isoliert. Davon profitiert in erster Linie seine rechtsextreme Widersacherin Marine Le Pen.
Blickt man auf jenen Tag zurück, an dem sich Emmanuel Macron vor fast genau einem Jahr eine zweite Amtszeit sicherte, blieb eine Szene besonders in Erinnerung: Der eben wiedergewählte Präsident geht bei seiner Siegesfeier vor dem Eiffelturm in Richtung Rednerpult, Arm im Arm mit seiner Frau und umgeben von einem Dutzend Kindern. Das Bild war ein starker Kontrast zu seinem einsamen Gang durch den Hof des Louvre nach seiner ersten Wahl vor fünf Jahren – und wohl kaum zufällig gewählt.
Nach einem Wahlkampf, der Frankreichs tiefe gesellschaftliche Spaltung und die starke Politikverdrossenheit der Französ:innen in grelles Licht gerückt hatte, sollte dieser Abend im Zeichen der Versöhnung stehen: ein Sieger, dem bewusst war, dass er in der Stichwahl gegen die rechtsextreme Marine Le Pen für viele nur das kleinere Übel gewesen war, der versprach, die Lehren daraus zu ziehen und der Präsident aller Französ:innen zu sein.
Millionen auf der Strasse
Heute, wo in Frankreich seit Wochen Aufruhr und Wut dominieren, wirkt dieses Versprechen wie aus einer fernen Zeit. Und der Präsident, der so demonstrativ das Bild des Zusammenhalts bemühte, ist weitgehend isoliert.
Ausschlaggebend dafür ist eine Rentenreform, die Macron selbst zum wichtigsten Projekt seiner zweiten Amtszeit erhoben hat. Und die er nun, da sie beschlossene Sache ist, so schnell wie möglich hinter sich lassen will: Ab dem 1. September wird die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre in Kraft treten, gegen die in den vergangenen drei Monaten immer wieder Hunderttausende bis Millionen auf die Strasse gegangen sind. Es kam zu Blockaden des Bahnverkehrs sowie von Häfen und Raffinieren, die Abfallversorgung, Schulen und Unternehmen wurden bestreikt.
Macron hat das Vorhaben, das rund siebzig Prozent der Französ:innen immer noch ablehnen, unbeirrt durchgesetzt. Vergangenen Freitag erklärte auch das Verfassungsgericht die Reform im Wesentlichen für zulässig. Für Macron, der das Gesetz noch in derselben Nacht erliess, mag das ein Sieg sein. Und dennoch scheint Frankreich nach den vergangenen Monaten vor allem Verlierer zu kennen. Den Präsidenten eingeschlossen.
Dessen Zustimmungswerte sind mit 28 Prozent so schlecht wie seit den Gelbwestenprotesten im Winter 2018/19 nicht mehr. Mehr als zwei Drittel der Französ:innen sind mit Macron unzufrieden, fast die Hälfte haben eine sehr schlechte Meinung von ihm. Selbst frühere Unterstützer:innen haben sich distanziert. Die Reform sei «schlecht gemacht und ungerecht», urteilte etwa der Ökonom und Förderer Macrons der ersten Stunde, Jacques Attali. Priorität müssten vielmehr die Modernisierung des Gesundheits- und Bildungswesens sowie der Klimaschutz haben. Der Grüne Daniel Cohn-Bendit erklärte in einem Interview, Macron und seine Regierung hätten die Stimmung in der Gesellschaft nicht gewittert: «Sie hätten zuerst die Arbeitsverhältnisse problematisieren müssen.»
Sorgen und Frustrationen
Es herrsche in Frankreich der Eindruck, dass die Debatte über die Rente «nicht in einen sozialen Kontext eingebettet wurde», sagt der Soziologe Luc Rouban von der Pariser Hochschule Sciences Po gegenüber der WOZ. Zur Ablehnung der Massnahme an sich kämen Sorgen und Frustrationen, etwa über die Inflation oder die mangelnde soziale Mobilität, die dazu beitrage, dass viele Französ:innen dem Ruhestand besonders stark entgegenfieberten.
Als die Regierung die Reform Mitte März mithilfe des umstrittenen Verfassungsartikels 49.3 durchboxte, also ohne Schlussabstimmung in der Nationalversammlung – in der Macron seit letzten Sommer keine absolute Mehrheit mehr hat –, stieg der Unmut in der Bevölkerung weiter. Fortan gingen auch jene auf die Strasse, die einen Angriff auf die Demokratie beklagten. Die Proteste verjüngten sich – und brachten zugleich Gewalt hervor. Bilder von Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei, von brennenden Müllbergen und Häuserfassaden gingen um die Welt.
Schnell und kompromisslos
Mit den Protesten drang auch an die Oberfläche, was in Frankreich schon lange gärt: der Ärger jener, die sich von der Staatsführung in Paris seit Jahren vergessen und nicht gehört fühlen. Oft richtete sich die Wut direkt gegen den Präsidenten und dessen Vorgehensweise: schnell und kompromisslos. Gegen jenen Mann, der bei seinem ersten Amtsantritt vor sechs Jahren versprochen hatte, die Demokratie neu zu beleben – und damit gescheitert ist.
«Macron wollte mit dem Vorhaben rasch Einsparungen erwirken und als Reformer auftreten», sagt Bruno Palier, Politologe an der Sciences Po. «Er sieht sich als jemand, der stets recht behält – allein gegen alle. Also prescht er vor.»
Dennoch wäre es falsch, allein Macron für die aktuelle Krise verantwortlich zu machen. Sie hat auch ein Licht auf ein Grundübel der Fünften Republik geworfen: die enorme Machtfülle des Präsidenten und die schwache Rolle des Parlaments. Diese Konstellation fördere Misstrauen, sagt der Politikwissenschaftler Antoine Bristielle, der für die den Sozialisten nahestehende Fondation Jean-Jaurès die öffentliche Meinung analysiert. «Die Bevölkerung will sich heute nicht mehr damit begnügen, dem Präsidenten fünf Jahre lang freie Hand zu lassen.»
Gewinnerin der Krise ist jene Person, von der Macron einst versprach, sie überflüssig zu machen: die Rechtsnationalistin Marine Le Pen. 39 Prozent der Französ:innen haben ein positives Bild von ihr. «Und dafür muss sie kaum etwas tun», sagt der Politologe Palier. In einer kürzlich mit einem Kollegen publizierten Analyse konnte Palier aufzeigen, dass sich Arbeiter:innen und Angehörige der unteren Mittelschicht von der Rentenreform besonders betroffen fühlen. Diese machen den Kern von Le Pens Wähler:innenschaft aus. Zugleich hatten sich bei den letzten Präsidentschaftswahlen viele von ihnen enthalten – ein Reservoir, aus dem die Rechtspopulistin beim nächsten Mal schöpfen könnte. Auch der Eindruck, die Regierung kümmere sich nicht um die Anliegen der Bevölkerung, nutze Le Pen, sagt Palier. Deren zum Teil fehlerhafte Darstellung der Reform habe zudem die populistische Erzählung genährt, wonach die Eliten ohnehin ständig lögen.
Bei den Demos gegen die Rentenreform war Le Pen abwesend, im Parlament bemühen sich die Abgeordneten ihres Rassemblement National um ein seriöses Image, während etwa jene der Linksaussenpartei La France insoumise durch Störmanöver auffallen. Überhaupt kommt das linke Lager in Umfragen zurzeit kaum vom Fleck. Nach dem Entscheid des Verfassungsgerichts twitterte Le Pen, es sei nun am Volk, einen Wandel vorzubereiten. Mit anderen Worten: Wählt nächstes Mal mich!
Unterdessen will Macron nach vorne blicken. Am Montagabend skizzierte er in einer Fernsehansprache mehrere Vorhaben für die kommenden hundert Tage – unter anderem zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Zur selben Zeit kam es in mehreren Städten erneut zu Demonstrationen. Eine Einladung, in den Élysée-Palast zu kommen, lehnten die Gewerkschaften ab. Sie haben für den ersten Mai zu einem weiteren Aktionstag aufgerufen.