Free Tibet auf Schweizerdeutsch
2008: Olympische Spiele in China. Friedliche Proteste in Tibet werden vom chinesischen Militär brutal niedergeschlagen. Ich sitze im Wohnzimmer meiner Mutter und schaue gebannt in den Fernseher: die Unterdrückung der tibetischen Bevölkerung in der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens. Schlagartig wird Tibet zu mehr als einer Geschichte meiner Eltern, von der sie mir immer erzählt hatten. Tibet ist einerseits weit weg und gleichzeitig genau hier, real und lebendig. In Wädenswil in unserem Wohnzimmer.
Meine jugendliche Welt wurde von diesen Bildern erschüttert. Es herrschte Aufruhr in der tibetischen Exil-Community, und ich ging an jede Demonstration und beteiligte mich an jeder Aktion des Vereins Tibeter Jugend in Europa. Unser politisches Ziel: ein freies Tibet, ganz einfach. Zwei Jahre später wurde ich in den Vorstand des Vereins gewählt, und gemeinsam mit anderen Jugendlichen organisierten wir Aktionen, Demonstrationen und Vernetzungstreffen. Tagsüber studierten oder arbeiteten wir, um 18 Uhr trafen wir uns im Büro in Zürich Binz, planten Kampagnen, Aktionen und schrieben Medienmitteilungen bis spät in die Nacht. Alles ehrenamtlich, gefühlt im Pensum eines Vollzeitjobs.
Für mich war klar geworden: Hier war ich keine Fremde mehr. Hier wussten die Menschen, dass man nicht zwei Herzen in der Brust trägt. Ich wurde mutiger und lauter. Ich machte auch mal Fehler, ohne gleich fundamental an mir selbst zu zweifeln. Meine gesamte Jugend, die besten Jahre des Lebens, könnte man vielleicht behaupten, widmete ich dem tibetischen Freiheitskampf. Und dieser Kampf und dieser Verein machten mich zu einer Erwachsenen. Das ging vielen von uns so. Der Verein war für uns «eine geistige Heimat»*. In ihr entstanden Freundschaften, die heute noch bestehen. Das ist für mich Heimat.
Am Basler Mondfest 2014 führten wir während der Rede der chinesischen Botschafterin einen stillen Protest durch. Der Basler Stadtpräsident Guy Morin, der mit ihr auf der Bühne stand, war sichtlich irritiert und vor allem überfordert. Während wir vom chinesischen Botschaftspersonal zu Boden gedrückt wurden, verkündete er am Mikrofon: «Ich bitte die tibetischen Mitbewohner, die wir herzlich willkommen geheissen haben als Land der Schweiz, den Frieden zu wahren und dieses Familienfest zuzulassen.» Verletzender als die physische Gewalt der Chinesen waren die Worte eines Schweizer Stadtpräsidenten.
Gehörten wir nicht zur Schweiz? Sollten wir, Schweizer:innen mit tibetischen Wurzeln, unsere Klappe halten, weil wir dankbar zu sein haben, dass unseren Eltern und Grosseltern Asyl gewährt wurde? An diesem Beispiel sieht man, wie Menschen mit Migrationsgeschichte in der Schweiz behandelt werden: wie Fremde.
Jahrelang dachte ich, dass mein politisches Engagement für Tibet nichts mit der Schweiz zu tun hatte, und Aussagen wie die von Guy Morin haben dieses Gefühl in mir bestärkt. Doch spätestens seit den 1960er Jahren, als das Schweizerische Rote Kreuz und viele Schweizer Unternehmer sich dazu entschieden hatten, tibetische Flüchtlingsfamilien aufzunehmen und sie anzustellen, gehören auch wir zu diesem Land. Und deswegen sind die Anliegen, die uns beschäftigen, auch Schweizer Anliegen. Menschen mit Migrationsgeschichte existieren nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in ihrem Herzen: Meine Schweiz ist tibetisch, und mein tibetischer Freiheitskampf ist schweizerisch.
* «Eine geistige Heimat» war der Titel der Publikation zum vierzigjährigen Jubiläum des Vereins Tibeter Jugend in Europa.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.