Migrationsgeschichte: Die Kehrseite der Medaille

Nr. 36 –

In einem vielschichtigen Filmessay zeigt Samir anhand der italienischen Migrationsgeschichte, wie die Schweiz Arbeiter:innen zu rechtlosen Ausländer:innen degradierte – und was sie daraus lernen könnte.

Junge Italienerinnen im Ausgang in St. Gallen, 1954
Im Ausgang: Junge Italienerinnen 1954 in St. Gallen. Foto: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz

In Biel stiess Samir bei seinen Recherchen auf eine Baracke, in der bis 2002 Saisonniers gewohnt hatten. Schwarzweissaufnahmen aus dem Film «Il rovescio della medaglia» (1974) des Arbeiters und autodidaktischen Filmemachers Alvaro Bizzarri zeigen die «Kehrseite der Medaille», die katastrophalen Bedingungen, unter denen die Bauarbeiter dort lebten: Kochen bei minus sechs Grad im Winter, Schlafen auf engstem Raum, die einzige Toilette dort, wo auch gekocht und gewaschen wird – Beweis dafür, wie brutal die Schweiz mit den Menschen umging, auf deren Rücken sie ihren Wohlstand vergoldete.

Auf Bizzarris Film ist Samir über ein Kollektiv gestossen, das die Baracke für diverse Projekte nutzen wollte – und erst später gewahr wurde, dass da bis 2002, als das Saisonnierstatut endlich abgeschafft wurde, Menschen gewohnt hatten. Die jungen Besetzer:innen aus Biel, die in Samirs Film zu Wort kommen, selbst Kinder von Einwander:innen, wunderten sich, noch nie davon gehört zu haben. Nun wollen sie die Baracke als Erinnerungsort erhalten. Die Episode aus dem Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» ist auch ein Indiz dafür, wie die jahrzehntelange Diskriminierung und Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen in grossen Teilen der Gesellschaft noch immer verdrängt werden.

Auslese an der Grenze

Der Filmemacher hat sich viel vorgenommen. In 130 Minuten führt er durch sieben Jahrzehnte Schweizer Migrationsgeschichte. Der Fokus liegt auf den sechziger und siebziger Jahren – und auf der grössten Migrationsbewegung in dieser Zeit: derjenigen aus Italien.

Die empathische Erzählhaltung ist persönlich bedingt: Als Fünfjähriger kam Samir 1960 mit seinen Eltern mit dem Orientexpress aus Bagdad in die Schweiz. Im Unterschied zu den meisten italienischen Zeitzeug:innen, die im Film zu Wort kommen, migrierte seine Familie in erster Linie, um Diskriminierung zu entgehen. Und doch gibt es schon früh Bezüge. Anfang der sechziger Jahre, als Samir in Dübendorf zur Schule ging, hatte er die erste Begegnung mit einem Kind italienischer «Gastarbeiter».

Den grössten Raum nehmen im Film Zeitzeug:innen ein; dazwischen platziert der Regisseur private Fotos und Dokumente, Archivmaterial, Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfilmen, pointierte Zwischentitel und animierte Sequenzen, in denen der junge Samir in Form eines Avatars, wie man ihn vom Gaming kennt, erscheint – Momente, da die grosse mit der kleinen Geschichte kollidiert und der Filmemacher den in seiner Vielfalt überwältigenden Stoff in eine persönliche Erzählung verwandelt.

In einer dieser Animationen wird der kleine Samir Zeuge, wie hämisch grinsende blonde Buben auf dem Schulhof den einzigen Italiener in der Klasse verprügeln. Das schlechte Gewissen, dem Jungen nicht geholfen zu haben – und das Bewusstsein, selbst ein Aussenseiter zu sein: Es ist diese speziell geprägte Anteilnahme, in der Samir uns mit seiner sanften Erzählstimme durch den ganzen Film begleitet – vertraulich, indem er quasi einen Einblick in das Tagebuch seines politischen Erwachens ermöglicht; aber ebenso mit der respektvollen Distanz, mit der er seine Rolle als Chronist einer grösseren Geschichte wahrnimmt.

Kurz vor der Prügelszene sind Aufnahmen aus Alexander J. Seilers Dokumentarfilm «Siamo italiani» (1964) zu sehen, der erstmals die menschenfeindliche Praxis gegenüber den Menschen aus dem Nachbarland festhielt: potenzielle Arbeitskräfte, die sich beim Grenzübergang in Chiasso medizinisch untersuchen lassen müssen. «Als ob man aus einem Korb Äpfel nur die besten nimmt»: So beschreibt es Gemma Capone, eine Protagonistin, die zu jener Zeit mit ihren Eltern in die Schweiz kam.

Samir, Jahrgang 1955, zählt zur Generation, der auch die meisten dieser Kinder der damaligen Saisonniers angehören, von denen viele besonders nachhaltig unter der Schweizer Migrationspolitik litten. So erzählt Catia Porri, die 1962 im Kofferraum des Autos ihrer Eltern in die Schweiz einreiste, wie sie sich eineinhalb Jahre lang in einem Mansardenzimmer im Zürcher Kreis 4 verstecken musste. Ein paar Jahre später wurde das Verbot des Familiennachzugs aufgrund des Drucks der italienischen Regierung gelockert. Die «Schrankkinder», wie man sie später nannte, konnten ihre Verstecke verlassen. Doch in den Schulen setzte sich die Diskriminierung fort. Adriana de Nicola erzählt, wie sie am ersten Schultag neben einem «süssen blonden» Mädchen sass, dieses aber wenige Tage später plötzlich einen anderen Platz einnahm – seine Mutter wollte nicht zulassen, dass ihre Tochter neben einem Italienerkind sitzt.

Die Schweiz als Baustelle

In einer sorgfältigen Auslegung rekonstruiert der Film die Hintergründe, die ab dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen aus Italien zur Emigration veranlassten. Fotos aus dem Apulien jener Zeit machen nachvollziehbar, wie nachhaltig das Land vom Krieg zerstört wurde – und wie gross die Armut besonders im Süden Italiens war. Und andererseits zeigt er, wie sehr die vom Krieg verschonte Schweiz davon profitierte.

Die Schweiz als «riesige Baustelle» ab den Nachkriegsjahren illustriert der Regisseur in einer animierten Sequenz, in der der kleine Samir im Dübendorf der sechziger Jahre in unberührter Natur dem Quaken eines Frosches lauscht und wenig später von spektakulär aus dem Boden schiessenden Hochhäusern überrumpelt wird. Kurz darauf sieht und hört man Adriano Celentano, wie er mit «Il ragazzo della via Gluck» (1966) den Wandel in seinem Mailänder Vorstadtviertel besingt. «Überall bauten sie schöne Häuser, durften aber nicht darin wohnen», bringt es Samir auf den Punkt und breitet auf der Leinwand Wohnungsinserate aus, die die unverhohlene Diskriminierung schwarz auf weiss dokumentieren: «Nur seriöse Herren (Schweizer)»; «Balkonzimmer. Keine Fremdarbeiter» oder schlicht «Keine Italiener».

Unterstützung vonseiten der staatlichen Institutionen erhielten sie kaum. Samir untermauert das unter anderem mit Aufnahmen aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens, auf denen zu sehen ist, wie kaltherzig Politik und Justiz auf die laut Autor Concetto Vecchio «schlimmste industrielle Tragödie der Schweizer Geschichte» reagierten: Am 26. August 1965 war bei der Staumauer Mattmark ein Gletscher abgebrochen und auf die Baracken der Arbeiter gestürzt, 88 Menschen, zum grossen Teil Italiener, kamen ums Leben. Im folgenden Prozess wurden alle Beschuldigten freigesprochen; die Angehörigen der Opfer mussten die Hälfte der Prozesskosten zahlen.

Ein besonderes Kapitel widmet der Filmemacher dem Verhältnis der Schweizer Arbeiter zu ihren italienischen Kollegen. Und damit auch der unrühmlichen Rolle, die die Gewerkschaften spielten. Dazu lässt er den ehemaligen Unia-Präsidenten Vasco Pedrina zurückblicken, der sich als Buchautor mit dem Wandel der Gewerkschaften auseinandergesetzt hat. Viele Schweizer Gewerkschafter nahmen – trotz ihrer deutlich höheren Löhne – die Kollegen aus dem Süden als Rivalen wahr. Das zeigt sich auch in Fernsehaufnahmen von Diskussionen vor der Abstimmung über die «Überfremdungs-Initiative» im Jahr 1970. Obwohl sich die Gewerkschaften letztlich doch zu einem Nein zur vom Zürcher Nationalrat James Schwarzenbach (Nationale Aktion) initiierten Vorlage durchrangen, stimmten 46 Prozent der Schweizer Männer dem Begehren zu. Bei einer Annahme hätten 350 000 Arbeiter:innen das Land verlassen müssen.

Der Begriff «Überfremdung» ist eine spezifisch schweizerische Erfindung. Erstmals offiziell verwendet hatte ihn der Zürcher Sozialfürsorger Carl Alfred Schmid Anfang des 20. Jahrhunderts, worauf er in den Dreissigern von der Nationalen Front übernommen und später durch Schwarzenbach mehrheitsfähig gemacht wurde. Selbst heute noch geistert der Begriff durch die Schweiz. So schamlos sich der Rassismus vielerorts (inzwischen primär gegen Asylsuchende) bemerkbar macht, so verschämt übt sich die Schweiz weiterhin auch in der Verdrängung ihrer jahrzehntelangen Unrechtspraxis.

Die Bedeutung der Frauen

Die Kontinuität einer rassistischen Grundierung aufzuzeigen, war ein Hauptanliegen Samirs. Doch würdigt er nicht nur die Opfer. Sein Film ist mindestens ebenso eine Hommage an das Engagement, mit dem Italiener:innen die Schweiz sozial und kulturell bereicherten und weltoffener machten. Dabei bringt er auch die in Vergessenheit geratene Tatsache in Erinnerung, dass bis Ende der fünfziger Jahre mehr Frauen als Männer aus Italien in Schweizer Fabriken arbeiteten. Für viele von ihnen war die Flucht aus den patriarchalen Fängen in ihrer Heimat zunächst eine Befreiung; wobei auch Abenteuerlust mitspielte, wie Rosanna Ambrosi aus eigener Erfahrung erzählt – ein Verhalten, das so gar nicht in das rückständige Frauenbild der offiziellen Schweiz passte.

Neben Ambrosi, die sich heute für die Rechte minderjähriger Geflüchteter einsetzt, kommen viele weitere Frauen zu Wort: die Fotografin Catia Porri etwa, die den Verein Tesoro mitgründete, der von der Schweiz eine offizielle Entschuldigung für das Leid illegalisierter Familien fordert; Marina Frigerio, die als Psychologin traumatisierte Kinder begleitet – oder Vania Alleva, die heute die Unia, die grösste Schweizer Gewerkschaft, präsidiert. So würdigt der Film auch den immensen Beitrag, den italienische Migrant:innen hierzulande in der feministischen, gewerkschaftlichen oder asylpolitischen Bewegung geleistet haben und immer noch leisten. Speziell die Gewerkschaften hätten ohne die vielen italienischen Genoss:innen nie ihre heutige Kampfkraft erlangt.

Samirs Essay ist auch eine Liebeserklärung. Als der Filmemacher erzählt, wie er als Junge am Radio «Maria» von Rocco Granata hörte, nennt er das «den Moment, als ich mich in die italienische Kultur verliebte». Immer schwingen auch erotische Fantasie, kulturelle Bewunderung und revolutionäre Sehnsucht mit. Diese Begeisterung äussert sich auch, wenn er sich den Praktiken der Selbstorganisation in den «Colonie libere» widmet. Aus dem 1943 gegründeten Verein migrierter Italiener:innen gingen diverse Elternkollektive, Schulen und Familienzentren hervor.

So landet Samir gegen Schluss wieder bei zwei Baracken. Eine von ihnen steht in Dübendorf. Wo er einst aufgewachsen ist, stösst er auf eines der wenigen Lokale, die weiterhin im Geist der Colonie libere betrieben werden. Heute ist es für Menschen aus aller Welt geöffnet – auch für Geflüchtete. Die andere Baracke findet er in Illnau ZH, unweit des Hauses, in dem Giuseppe Lucino, eines von vielen ehemaligen «Schrankkindern», heute wohnt. Acht abgewiesene Asylsuchende teilen sich darin ein Zimmer. Kurz blitzt sie wieder auf: die Kehrseite der Medaille.

«Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» (Teil 1). Regie: Samir. Schweiz 2024. Jetzt im Kino. www.working-class.ch