Rorschach: Hafenstadt von Welt

Nr. 22 –

In Rorschach leben mehr Menschen mit ausländischem Pass als mit einem schweizerischen. Noch vor wenigen Jahren sah es hier wirtschaftlich düster aus, und Politiker nutzten die Stadt als Bühne für Provokationen. Heute ist alles viel entspannter. Wieso bloss?

der Rorschacher Hafen, am Horizont ist die Fähre nach Deutschland zu sehen
Auf zu neuen Ufern: Rorschacher Hafen, am Horizont die Fähre nach Deutschland.

Ahmad Assad ist ein zuvorkommender Mann. Er empfängt den Kunden in seiner Feinbäckerei «Damaskus» an Rorschachs Hauptstrasse mit einem Lächeln. Und zeigt dann auf die Auslagen. Dort reihen sich syrische Süssigkeiten, 35 Sorten hat der Konditor im Angebot. Assad flüchtete vor sieben Jahren vor dem Krieg in seinem Heimatland. Jetzt ist er Gewerbler in der Stadt am Bodensee. Die Konditorei betreibt er mit seinem Cousin Jehad Mado. Gegründet haben sie den Betrieb vor knapp zwei Jahren. Wer durch Rorschach flaniert, passiert türkische Lebensmittelläden, ein italienisches Hochzeitsbekleidungsgeschäft oder von Menschen aus allen Weltgegenden betriebene Coiffeur- und Nagelstudios. In der weit herum bekannten Pizzeria Capri, seit über zwanzig Jahren geführt von Chandran «Sandro» Saravanamuthu, läuft das Mittagsgeschäft. Er kam einst aus Sri Lanka in die Schweiz. Seine hiesige Laufbahn begann er als Tellerwäscher.

Ende 2022 hat sich Rorschach zum Klub jener zehn Gemeinden des Landes gesellt, in denen Menschen ohne Schweizer Pass die Mehrheit stellen (vgl. «Die Top Ten» weiter unten). Seit Jahrhunderten ist Rorschach von Migration geprägt. Zunächst kamen Italienerinnen, Spanier und schliesslich Portugies:innen in die Stadt. Bereits im 18. Jahrhundert liessen sich Tuchhändler aus der Lombardei nieder.

Glace-Skulptur auf dem Gehweg in der Rorschacher Hauptstrasse, rechts das historische Kornhaus
Freie Sicht auf den Bodensee! Rorschacher Hauptstrasse, rechts das historische Kornhaus. 

Die Hafenstadt mit ihrer Seepromenade und dem das Ortsbild dominierenden historischen Kornhaus entwickelte sich zunächst zu einem aufstrebenden Industriestandort, Anfang der 1960er Jahre zählte sie fast 14 000 Einwohner:innen, der Anteil an Menschen mit ausländischem Pass lag schon damals bei über vierzig Prozent. Dann setzte der Niedergang ein: Die Einwohner:innenzahl halbierte sich bis in die neunziger Jahre beinahe, Industriebetriebe kehrten der Stadt den Rücken oder stellten den Betrieb ein und hinterliessen Wunden im Stadtbild. Rorschach verfiel in eine Depression, war politisch zerstritten und verwaltete bloss noch den eigenen Niedergang.

Das Büro im Gebetshaus

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre erholte sich Rorschach allmählich. Die Einwohner:innenzahl ritzt bald wieder die 10 000er-Grenze, es wird gebaut und geplant, was das Zeug hält, fast alle Brachen, die der Abzug der Industrie hinterliess, sind bereits bebaut. Auf dem Areal der Feldmühle im Herzen Rorschachs, einst das industrielle Gesicht der Stadt, sollen Gewerberäume und 300 Familienwohnungen entstehen. Die Sozialhilfequote, noch vor wenigen Jahren die höchste im Kanton St. Gallen, hat sich auf 2,8 Prozent fast halbiert, es gibt einen neuen Stadtbahnhof, der Steuerfuss, in den neunziger Jahren einer der höchsten in St. Gallen, liegt mittlerweile nahe am kantonalen Durchschnitt.

Wer diesen Wandel bewerkstelligte, ist umstritten. Thomas Müller (SVP) war bis 2019 sechzehn Jahre lang Stadtpräsident. Er redete gerne vom «Turnaround» – und wenn man ihm zuhörte, war klar: Er spielte dabei die Hauptrolle. Ein politischer Gegner des rechten Politikers sagte vor elf Jahren in einem Porträt in der WOZ (siehe Nr. 25/12): «Im Nachhinein war seine Wahl richtig. Es brauchte einen Bulldozer wie ihn. Aber jetzt ist seine Machtfülle zu gross. Er sollte abtreten.» Dem «König von Rorschach» folgten die Stimmbürger:innen irgendwann nicht mehr: Als er dem Herz der Stadt eine 35 Millionen Franken teure Bahnunterführung einpflanzen wollte, sagten sie Nein. Auch andere Vorhaben, etwa die Untertunnelung der Hauptstrasse, blieben, was sie waren: megalomanische Träume.

Die Top Ten

Ende vergangenes Jahr teilte das Bundesamt für Statistik mit: In Rorschach leben mehr Menschen mit ausländischem Pass als Schweizer Bürger:innen, nämlich 50,2 Prozent. In der Schweiz ist dies nur in zehn Gemeinden der Fall. Den höchsten Anteil hat die 1600-Seelen-Gemeinde Täsch unweit von Zermatt mit 59,1 Prozent. Hier leben vor allem Portugies:innen, die in der Tourismusindustrie arbeiten und wegen des günstigen Wohnraums ins kleine Dorf ausweichen. In der Ostschweiz gehören neben Rorschach auch Kreuzlingen und St. Margrethen zum «Klub». Die anderen sechs Gemeinden sind: Paradiso TI, Chavannes-près-Renens VD, Pregny-Chambésy GE, Spreitenbach AG, Leysin VD und Neuenhof AG. In grossen Schweizer Städten ist der Anteil von Menschen mit ausländischem Pass zwar meist höher als im Landesdurchschnitt (25 Prozent), aber deutlich tiefer als in den oben aufgeführten Gemeinden: So sind es in Bern 24,5 Prozent, in Zürich 28 Prozent und in Basel 36,5 Prozent. Einzig die Stadt Genf kommt mit 48,6 Prozent nahe an die Top Ten heran.

 

Müller, der auch im Nationalrat sass, provozierte, polarisierte und produzierte negative Schlagzeilen. Die Stadt trat aus der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) aus, weil die Ansätze für den Eigenbedarf zu hoch seien, der Stadtpräsident höchstpersönlich vertrieb eine Sozialhilfe beziehende Schweizerin nach St. Gallen, was Rorschach am Ende 100 000 Franken Nachzahlungen kostete. In der SRF-«Rundschau» liess Müller folgenden Satz fallen: «Als ich anfing, waren wir eine typische A-Stadt: Arme, Alkis, Alte.» Und in einem «Tagblatt»-Interview sagte er, der Islam habe in der Schweiz nichts verloren. Das war also damals die Tonlage an der Spitze der Stadtverwaltung.

2019 trat Müller zurück, im gleichen Jahr wurde er auch aus dem Nationalrat abgewählt. Als Stadtpräsident folgte vor knapp drei Jahren der freisinnige Robert Raths. Die Stadt entwickelt sich nun unter dem Schlagzeilenradar weiter, sie kehrte zurück in die Skos, die Steuerlast sank um weitere zehn Prozentpunkte, und die Sozialhilfequote halbierte sich ganz ohne Armenhatz. Raths gilt als liberal, offen, umgänglich und sachorientiert. Der Sozialdemokrat und Stadtratskollege Guido Etterlin, der selber gerne Stadtpräsident geworden wäre und die Wahl gegen Raths verlor, sagt: «Auf ihn ist Verlass, mit ihm kann man gut zusammenarbeiten.»

Agim Kasami, Präsident der albanisch-islamischen Gemeinschaft und Trainer von Fussballjunioren
Agim Kasami, Präsident der albanisch-islamischen Gemeinschaft und Trainer von Fussballjunioren: «Unter den Kindern und Jugendlichen fragt niemand nach der Herkunft, das interessiert sie nicht.»

Seit Raths an der Spitze der Behörde wirke, sei von den ausländischen Communitys die Anspannung abgefallen, sagt Agim Kasami. «Die Atmosphäre ist lockerer, auch weil Raths im besten Sinn locker auftritt. Mir scheint, er ist ein Stapi für alle.» Kasami ist Präsident der albanisch-islamischen Gemeinschaft und gibt diese Einschätzung in seinem Büro im Gebetshaus des Vereins ab. Es ist in einem alten, unscheinbaren Gewerbegebäude etwas abseits der Industriestrasse untergebracht. Und liegt auf Rorschacher Boden. Die Grenze zwischen Goldach und Rorschach verläuft entlang der Bürowand. Für Agim Kasami existiert diese Grenze im Alltag nicht. Er erlebt Goldach, Rorschacherberg und Rorschach als ein «Dorf». Kasami schwärmt vom See, von den vielen Begegnungsorten, von den Einkaufsmöglichkeiten, von Bars und Restaurants, von der Seepromenade. Hier am Bodensee ist seine Heimat. Kasami kam als Kind aus Mazedonien nach Goldach. Er erzählt eine Geschichte, wie sie viele Migrant:innen erzählen: Als er die Sprache seiner neuen Heimat gelernt hatte, übersetzte er viel für seine Eltern und machte eine Lehre als Textilveredler, verliess die sterbende Branche, jobbte bei Nestlé und in einer Fleischfabrik. Und sagte sich mit neunzehn: Das kanns nicht gewesen sein. In Zürich absolvierte er bei einer Fahrschule eine kaufmännische Lehre und liess sich danach zum Versicherungsberater umschulen. Auf diesem Beruf arbeitet er bis heute. «Damals galt eine Lehre für Migrantenkinder als das höchste der Gefühle. Meine Tochter und mein Sohn sollen einmal studieren», sagt Kasami.

Nach Zürich ziehen kam für ihn nicht infrage. In Goldach ist er verwurzelt, hier liess er sich 2012 einbürgern, hier gründete er eine Familie, hier spielte er Fussball, hier trainiert er inzwischen Junioren beim FC Rorschach-Goldach. «Früher oder später sollten die drei Gemeinden fusionieren, so wie es die beiden Fussballklubs 2017 bereits vorgemacht haben», wünscht sich Kasami. Unter den Kindern und Jugendlichen frage niemand nach der Herkunft, das interessiere sie schlicht nicht. Das Thema Ausländer sei – anders als noch in seiner Jugend – kein Thema mehr.

Der 35-Jährige präsidiert die albanisch-islamische Gemeinschaft seit sieben Jahren. Seine Eltern waren vor zwanzig Jahren Mitgründer:innen des Vereins. «Wir haben den Generationenwechsel gut bewerkstelligt, darauf bin ich stolz», sagt er. Als er übernahm, zählte der Verein 130 Mitglieder, heute sind es 350. Siebzig Kinder und Jugendliche unterweist der Imam in religiösen Dingen, der Verein vermittelt ihnen kulturelle Kenntnisse aus der alten Heimat oder erteilt Nachhilfeunterricht. Agim Kasami sieht den Verein auch in der Rolle des Mittlers zwischen Behörden, der lokalen Gesellschaft und allen Religionsgemeinschaften. Besonderen Wert legt er auf Integration. «Wir vermitteln den Jungen: Ihr lebt in der Schweiz, ihr sollt euch dazu bekennen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Jugendliche Slang reden, ich halte sie dazu an, sich in Schweizerdeutsch auszudrücken. Das ist auch eine Frage des Respekts.» Integration sei die Basis des Erfolgs, auch des beruflichen, bedeute aber nicht, seine Wurzeln zu vergessen. Zum Abschied sagt er: «Wer uns kennenlernen möchte – unsere Türen stehen allen offen.»

Frühstück für zwei Franken

Offen für alle sind auch die Räume des Quartiertreffs an der Löwenstrasse. Er liegt nur wenige Gehminuten vom Stadtbahnhof. Betrieben wird er von der Quartierkoordination der Stadt Rorschach. Es ist Freitagvormittag und «Quartiercafé». Wer mag, kann einen Kaffee trinken – er kostet einen Franken – oder ein kleines Frühstück für zwei Franken zu sich nehmen. Werner – man duzt sich – besucht den Treff, weil er hier die Lokalzeitungen lesen kann. Der betagte Rentner lebt seit 1962 in Rorschach – und hatte Pech. Mit Mitte fünfzig verlor er seinen Job und fand trotz aller Bemühungen keinen anderen mehr. «Ich war immer sehr sparsam, daher konnte ich mich ohne fremde Hilfe durchbringen», bemerkt er und steht dann auf. Er hilft einer Frau, die einen Spielzeug-Maxi-Cosi bastelt und mit gelben Wollfäden nicht weiterkommt. Die Hände des 84-Jährigen sind immer noch geschickt. Kinder tollen herum, zwei Frauen unterhalten sich in Tigrinya.

«Um neun war mehr Betrieb», sagt Sibylle Baumgartner, die als Sozialarbeiterin im Treff arbeitet. «Hier können sich Menschen ungezwungen begegnen, sich vernetzen, neue Rollen einüben und experimentieren.» Vielleicht lässt sich das später in einem grösseren Rahmen fruchtbar machen, etwa in einem Verein. «Ermächtigung», «Hilfe zur Selbsthilfe» lauten die Stichworte. Es spielt keine Rolle, wer man ist, woher man kommt und weshalb man den Treff besucht. Niemandem wird hier das Etikett «Ausländer» oder «Schweizerin» angeheftet.

In Rorschach gibt es rund 4000 Stimmberechtigte. Bei einer (hohen) Stimmbeteiligung von fünfzig Prozent steuern 2000 Einwohner:innen den politischen Lauf der Dinge – meistens sind es weniger. Das ist auf lange Sicht unhaltbar. Die Stadt hat wie der grosse Rest des Landes ein demokratiepolitisches Problem, das jedoch lösbar wäre: In 600 Schweizer Gemeinden – vor allem der Westschweiz – können Menschen mit einem ausländischen Pass bereits an der Urne mitbestimmen, selbst in Graubünden kennen 27 Gemeinden dieses Recht. Abmildern liesse sich dieses Ungleichgewicht in der ganzen Schweiz. Eben hat ein Komitee die Volksinitiative für ein «modernes Bürgerrecht» lanciert. Die «Demokratie-Initiative», hinter der die Aktion Vierviertel steht, fordert: Wer seit fünf Jahren in der Schweiz lebt, eine Landessprache einigermassen beherrscht und sich keiner schweren Vergehen schuldig gemacht hat, soll den Schweizer Pass bekommen können.

Denise Keel, Leiterin der Quartier­koordination
Beratungen ganz ohne Papierkrieg: Denise Keel, Leiterin der Quartier­koordination.

Die Quartierkoordination gibt es seit 2010. Sie ist gewachsen aus der Initiative «Projet urbain», finanziert von Bund, Kantonen und Gemeinden. Es ist gut angelegtes Geld. Es gibt ein Lese- und Schreibbüro, Hilfe bei Bewerbungsschreiben, Budgetberatung, einen Mittagstisch, ein «Gesprächskarussell» mit wechselnden Themen für alle Rorschacher:innen. Denise Keel leitet den Treff. Sie sagt: «Wir sind zwar Teil der Verwaltung, funktionieren aber nicht wie eine Verwaltung. Wir arbeiten sehr pragmatisch.» Wer im Treff vorbeischaut, wird nicht befragt, muss keine Formulare ausfüllen oder einen Termin vereinbaren. «Wir helfen, wenn wir gefragt werden. Können wir nicht helfen, vermitteln wir Fachstellen oder führen Gespräche mit Arbeitgebern.»

Risiko Krankenkasse

Während des Gesprächs wendet sich ein junges Paar an Denise Keel. Sie haben ein Problem mit der Zahlung der Krankenkassenprämie. Keel sagt: «Kommt morgen nochmals vorbei, dann helfe ich euch.» Um die Prämie tief zu halten, hat die Familie mit zwei kleinen Kindern den höchsten Selbstbehalt gewählt. Jetzt hat der vorher kerngesunde Mann ein ernsthaftes gesundheitliches und damit ein finanzielles Problem. Als er eine Arbeit fand, schaffte es die Familie aus der Sozialhilfe raus. Die Folge: Leistungen, die vorher von der Sozialhilfe bezahlt wurden, muss die Familie jetzt selber stemmen. «Oft haben Betroffene dann trotz Arbeitsstelle weniger Geld zur Verfügung. Das kann Probleme verursachen», sagt Keel. Die Armutsquote in Rorschach war bei der letzten Erhebung 2017 mit 11,3 Prozent die höchste im Kanton.

Yorsalem Kidane mit ihren Kindern Fkri (3), Lewhat (8) und Selam (10) im Quartiertreff
«Hier ist es megaschön, ich möchte nirgendwo anders leben»: Yorsalem Kidane mit ihren Kindern Fkri (3), Lewhat (8) und Selam (10) im Quartiertreff.

In Yorsalem Kidanes Leben läuft es vielversprechend. Die Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und einem Kleinkind arbeitet einen halben Tag pro Woche im Treff. Sie betreut am Dienstagnachmittag Kinder, damit deren Mütter sich entspannt bei einem Kaffee austauschen können. Kidane ist eine von vier bezahlten Assistentinnen. Gerade hilft sie einem Jungen bei einem Steckspiel. Ihr Mann Samiel Abraha arbeitete sich hoch, 2022 schloss er eine Lehre als Produktionsmechaniker mit eidgenössischem Fachzeugnis ab. Auch diese Familie bezieht keine Sozialhilfe mehr. Yorsalem Kidane ist vor zwölf Jahren aus Eritrea nach Rorschach geflüchtet. Die 32-Jährige sagt: «Hier ist es megaschön, ich möchte nirgendwo anders leben. Und ich hoffe, dass wir bald eine C-Bewilligung erhalten.»

Kidane will wie ihr Mann eine Ausbildung machen und eine Arbeit finden. Mit drei Kindern sei das sehr schwierig. Noch mangelt es ihr an Zeit, gut Deutsch zu lernen. «Mein Mann», sagt sie, «spricht gut Deutsch» – eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeitssuche. Kidane engagiert sich in ihrer Gemeinschaft. Zusammen mit ihrem Mann und anderen hat sie vor einem Jahr einen eritreischen Verein gegründet, in dem sie im Vorstand sitzt.

Wirtin Adriana Alismeno steht hinter dem Tresen ihres Restaurants
Wirtin Adriana Alismeno über die Rorschacher Schulen: «Sie machen einen famosen Job.»  

Die Geschichte wiederholt sich. Adriana Alismeno erinnert sich lebhaft an das rege Vereins- und Klubleben der italienischen Gemeinschaft. Sie überblickt fast sechzig Jahre Migrationsgeschichte. Ihr Vater kam aus Apulien in die Schweiz und lernte hier die Mutter kennen, die in der Nähe von Rimini aufgewachsen war. Alismeno selbst verbrachte einen Teil ihrer frühen Kindheit bei der Nonna in Süditalien, ehe sie im Alter von sieben Jahren ins Elternhaus zurückkehrte, zunächst nach Tübach, dann nach Rorschach. In der Hafenstadt gab es zu jener Zeit eine migrantische Infrastruktur, die sich die Zugewanderten selbst erschaffen hatten – zwei «Italienerklubs», einen sizilianischen und einen apulischen. Von dort kamen die meisten italienischen Migrant:innen. Ausserdem waren da noch drei Bocciaklubs sowie die Missione Cattolica, die einen Kindergarten betrieb und den Jugendlichen ein Freizeitprogramm an Samstagen anbot. Die spanische Gemeinde unterhielt zwei Klubs, einen royalistischen und einen sozialistischen. Später gründeten auch Portugies:innen ihren Klub, den es immer noch gibt.

Gut aufgestellte Schule

Von dieser migrantischen Infrastruktur ist also nicht mehr viel übrig, sie tritt allmählich in den Hintergrund, weil es sie offenbar nicht mehr dringend braucht. Die Migrant:innen aus Südeuropa sind längst selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Adriana Alismeno und ihre drei Geschwister sind ein Beispiel dafür. Sie liessen sich Mitte der achtziger Jahre einbürgern. Alismeno, die sagt, sich selber nie wirklich diskriminiert gefühlt zu haben, erinnert sich an die Diskriminierung anderer italienischer Kinder in der Schule. Noch in den siebziger Jahren landete ein erheblicher Teil in der ganzen Schweiz in Hilfsschulen, bis sich die Eltern dagegen auflehnten und eine Änderung dieser Praxis erkämpften: «Das war ja zunächst vor allem ein Sprachproblem. Hier in Rorschach, im Schulhaus Mühletobel, gab es eine Hilfsschule ausschliesslich für italienische Kinder.»

Alismeno und ihre Geschwister waren gut in der Schule. Ihnen blieb dieses Schicksal erspart. «Das lag auch an meinen Eltern, die selbstbewusst auftraten und dieses Selbstbewusstsein auf uns Kinder übertrugen», erinnert sie sich. Zunächst absolvierte sie eine KV-Lehre, später liess sie sich zur Lehrer:innenassistentin ausbilden. Ausserdem politisierte Alismeno für die SP im Stadtparlament. Das gibt es seit zwanzig Jahren nicht mehr, weil bürgerliche und gewerbliche Kreise in einer Volksabstimmung die Abschaffung an der Urne herbeiführten und damit die politischen Parteien marginalisierten.

Heute ist Adriana Alismeno Wirtin im Restaurant Hirschen. Hier treffen sich engagierte Rorschacher:innen immer wieder, um neue Initiativen auszuhecken. Heute würden in der Schule migrantische Kinder nicht mehr diskriminiert, so Alismeno. Wie auch? Es gibt viele Klassen, in denen sie die Mehrheit bilden. Im kantonalen Oberstufenranking schneidet Rorschach jeweils gut ab.

Alismeno arbeitet mit einer Kindergartenklasse. Von den sechzehn Kindern hat eines den Schweizer Pass. Ein Problem? «Nein», sagt Alismeno. «Die Rorschacher Schule ist sehr gut aufgestellt. Sie macht einen famosen Job. Sie ist sehr fortschrittlich. Davon könnte sich die Wirtschaft eine Scheibe abschneiden.»

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