Cherien Dabis: «Ist unsere Menschlichkeit an Grenzen gebunden? Meine nicht»

Nr. 43 –

Inspiriert von ihrem Vater, entwirft die Regisseurin Cherien Dabis in ihrem neuen Spielfilm ein palästinensisches Familienepos von der Nakba fast bis heute.

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Still aus dem Film
«Die Schlagzeilen kennen wir, aber wir wissen nicht, was das mit den Menschen macht.» Mit «All That’s Left of You» will Cherien Dabis (oben rechts) das ändern.    Stills: Trigon-Film

WOZ: Cherien Dabis, im Zentrum von «All That’s Left of You» stehen Väter und Söhne. Wir sehen, wie die militärische Besetzung bei jeder Generation unterschiedliche Formen von Männlichkeit produziert. War das von Anfang an klar, dass Sie den Fokus auf die Männer richten wollten?

Cherien Dabis: Ja, auch deshalb, weil der Film von der Geschichte meines Vaters inspiriert ist. Zudem glaube ich, dass militärische Besetzung für Männer besonders hart ist. Nicht dass Frauen und Kinder nicht auch darunter leiden würden, aber das Ausmass, in dem palästinensische Männer entmenschlicht werden, ist grotesk. So viele von ihnen wurden ohne Anklage vom Militär verhaftet oder, wie 1948, in Gefangenenlager gesteckt, geschlagen und gedemütigt.

WOZ: Erst im letzten Drittel tritt die Figur der Mutter, gespielt von Ihnen selbst, in den Vordergrund.

Cherien Dabis: Ja, das ist auch sehr bewusst. Ich wollte, dass sie hineinwächst in die Bedeutung, die sie für die Geschichte trägt – dass sie immer mehr Verantwortung übernimmt, je traumatisierter ihr Mann ist. Und dass es dann sie ist, die sich auf ihre Weise um alle kümmert.

«All That’s Left of You»: Kein Zurück nach Jaffa

Aus Deutschland waren gerade die letzten Crewmitglieder angereist, fast alles war bereit, auch die Kostüme und Requisiten für die verschiedenen Epochen. Dann kam der 7. Oktober – und 36 Stunden später war Cherien Dabis und ihrem Team in Ramallah klar, dass sie nicht wie geplant vor Ort würden drehen können. Dass sie dann die Vorproduktion nochmals neu aufsetzen und den ganzen Dreh nach Zypern, Jordanien und Griechenland verlegen mussten: Ein Wunder, dass man das ihrem Film kein bisschen ansieht.

«All That’s Left of You» setzt 1988 während der Ersten Intifada ein und fächert dann in einer epischen Rückblende das Schicksal einer palästinensischen Familie auf – angefangen mit dem Plantagenbesitzer Sharif (Adam Bakri), der 1948 bei der Nakba mit seiner Familie aus Jaffa vertrieben wird. Jahrzehnte später rücken dann sein Sohn Salim (Saleh Bakri) und dessen Frau Hanan (Cherien Dabis) ins Zentrum: er von israelischen Soldaten entwürdigt, später beide ihres Sohnes beraubt. Mit Mohammad Bakri (als älterer Sharif) spielt auch der Vater beider Bakris eine tragende Rolle. Und als sich im letzten Drittel eine sentimentale Wendung ankündet, bremst Cherien Dabis diese souverän und sehr bestimmt aus: Dialog heisst nicht Versöhnung.  flo

«All That’s Left of You». Regie und Drehbuch: Cherien Dabis. Palästina / Deutschland / Zypern / Jordanien / Griechenland / Katar / Saudi-Arabien 2025. Jetzt im Kino.

WOZ: Sie haben Ihren Vater erwähnt. Wie weit beruhen die Figuren im Film auf Ihrer eigenen Familiengeschichte?

Cherien Dabis: Mein Vater stammt aus dem Westjordanland, er wurde 1967 vertrieben. Erst als US-Bürger, nach etwa zehn Jahren, konnte er wieder ins Land seiner Herkunft reisen und die Angehörigen besuchen, von denen er getrennt worden war. Ich bin in der Diaspora aufgewachsen und sah, wie ihn das alles schmerzte. Seine Ernüchterung angesichts der politischen Situation wurde immer grösser, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, je länger er von Palästina geradezu besessen war. Das hat mich letztlich zu dieser Geschichte inspiriert. Ich wollte erkunden, wie solche Ereignisse eine Familie prägen. Die Schlagzeilen kennen wir, seit Jahrzehnten schon, aber wir wissen nicht wirklich, was das mit den Menschen macht. Das wollte ich zeigen.

WOZ: Ihr Vater hat im Exil also nie so etwas wie ein neues Zuhause gefunden?

Cherien Dabis: Nein, er wurde ja gewaltsam von seiner Heimat abgeschnitten. Ich glaube, er hatte sich von den USA mehr erhofft, als er bekam. Was er bekam, war viel Rassismus. Er ist nicht verbittert, er hat immer noch einen gewissen Humor. Aber es wurde zu einer Obsession bei ihm, und ich kenne viele Palästinenser, die so sind. Sie reden nur über die politische Situation, sie denken an nichts anderes. Wenn man so sehr an etwas festhält, ist es schwierig, loszulassen und anderswo ein Zuhause zu finden.

Ich glaube, mein Vater hatte immer die Hoffnung, dass er dereinst würde heimkehren können. Aber jede Reise zurück war verbunden mit Demütigungen, wenn er an der Grenze zwölf Stunden festgehalten wurde. Das ist auch meine Erinnerung an meine erste Reise nach Palästina: Ich war acht, meine ganze Familie wurde an der Grenze zwölf Stunden lang festgehalten. Wir alle wurden einer Leibesvisitation unterzogen, auch meine kleinen Schwestern, die damals eins und drei waren. Ich sah, wie mein Vater gedemütigt wurde. Er trat den Soldaten entgegen, diese fingen an, ihn anzuschreien. Wir glaubten, dass sie ihn vor unseren Augen töten würden. Die Demütigungsszene im Film ist davon inspiriert.

WOZ: Die Sache mit der Organspende im letzten Teil Ihres Films: Beruht das auch auf wahren Begebenheiten, oder ist das weitgehend Fiktion?

Cherien Dabis: Die Geschichte im Film ist fiktiv, aber im Jahr 2005 gab es diesen Palästinenser, der die Organe seines zwölfjährigen Sohns spendete, nachdem diesem in den Kopf geschossen worden war. Das hat mich nicht losgelassen, da kommt die Idee her.

WOZ: Als politische Metapher ist das Motiv ja recht plakativ. Wie der Vater im Film sagt: «Zuerst töten sie uns, und jetzt erwarten sie von uns, dass wir ihre Leben retten.» Andererseits hätte sich die Organspende auch als melodramatischer Kniff für eine billige Versöhnung angeboten. Wie haben Sie sich da orientiert? War das überhaupt ein Thema für Sie?

Cherien Dabis: Es war ein Minenfeld. Mir war klar, dass das nicht in einer Versöhnung enden sollte, das geht nicht, gerade im heutigen Umfeld. Mir ging es um die Symbolkraft, um die Frage: Hat ein Herz eine Nationalität? Ist unsere Menschlichkeit an Grenzen gebunden? Meine nicht. Warum lassen wir es zu, dass politische Führer unsere Differenzen ausnutzen? Warum halten wir uns an unseren Nationalitäten fest und an Grenzen, die nicht in unserem Interesse gezogen wurden? Ich wollte das Publikum mit solchen Fragen zurücklassen, statt welche zu beantworten oder irgendeine Art von Versöhnung zu stiften.

Und ich wollte eine Situation herbeiführen, in der eine Figur sagen kann: «Spürt ihr, wie wir leiden? Wir leiden wegen dem, was euch angetan wurde, wir spüren euer Leiden jeden Tag.» Diesen Dialog wollte ich im Film haben, weil das ein Dialog ist, den wir führen müssen. Dass Palästinenser einen so hohen Preis zahlen für die Verfolgung der Juden und letztlich für die Verbrechen von Europäern. Was heute geschieht, versteht man nur, wenn man sieht, was 1948 geschah, denn das geschieht bis heute. Es hat sich einfach immens beschleunigt, von ethnischen Säuberungen bis hin zu Genozid.

WOZ: Im Presseheft sagen Sie, Ihr Film sei nicht politisch. Wie ist das zu verstehen?

Cherien Dabis: Ich sehe meinen Film deshalb nicht als politisch, weil das unsere gelebte Erfahrung ist. Wir haben uns die Situation, in der wir leben, nicht ausgesucht. Uns Palästinenserinnen und Palästinensern wurde die Politik aufgezwungen. Der Film handelt davon, wie sich das auf eine Familie auswirkt: wie sie über Jahrzehnte hinweg davon geformt wird. Die Politik bleibt im Hintergrund.

Still aus dem Film
Still: Trigon-Film

WOZ: Gedreht haben Sie in Zypern, Jordanien und Griechenland. Hat sich Israels Krieg in Gaza auf die Arbeit am Film niedergeschlagen, beim Dreh oder später im Schnitt?

Cherien Dabis: Ich weiss nicht. Als der Krieg so richtig eskalierte und Gaza bombardiert wurde, fragte ich mich schon, ob der Film zu sanft sein würde. Und mir wurde klar: Nein, das ist es, was die Welt braucht, ich will, dass dieser Film ein möglichst breites Publikum findet. Die Nakba ist in der westlichen Welt immer noch ein Tabu. Man spricht nicht wirklich darüber, dass Palästina ethnisch gesäubert werden musste, um Platz für einen Staat mit jüdischer Mehrheit zu machen.

Aber so sanft ist der Film auch gar nicht, wenn ichs mir recht überlege. Man sieht die Bomben von 1948, auch wenn man nicht sieht, wie sie Menschen töten. Man sieht die Gewalt der Besetzung, nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische. Ich glaube, der Film wirkt sanft, weil er von dieser Familie handelt – und das war mir wichtig. Ich wollte, dass man diese Figuren richtig kennenlernt und gern bekommt. Wir sahen das Grauen und die Verwüstung in Gaza, während wir diesen Film machten, der gewissermassen davon handelt, was gerade wieder passiert. Der Film wurde so zu einem Behälter für unsere Gefühle, für unsere Trauer, unsere Wut, unser Mitgefühl, unsere Liebe.

WOZ: Sie sind in den USA geboren und haben dort Ihrerseits Rassismus erfahren, vor allem nach dem 11. September 2001. Wie sehen Sie all das, was derzeit unter Präsident Donald Trump vor sich geht?

Cherien Dabis: Ich habe die USA nie als offenes, liberales Land empfunden. Die USA, das ist Imperialismus. Vom Teilungsplan der Vereinten Nationen für Palästina von 1947, bei dem die USA eine wichtige Rolle spielten, über all die Waffen – wie viele Milliarden Dollar schicken wir jedes Jahr nach Israel? – und die Gewalt, die mit unseren Steuergeldern finanziert wird, bis zur Zerstörung des Irak. Es hört einfach nicht auf. Ich bin da wohl mit einer ganz anderen Perspektive aufgewachsen. Die US-Aussenpolitik war für mich immer schon ein völliger Witz. Heute ist es einfach so, dass mehr Menschen das sehen.

WOZ: Sie wollen sagen, unter Donald Trump sei nichts grundlegend anders?

Cherien Dabis: Es ist in vielerlei Hinsicht schlimmer geworden, die McCarthy-Ära ist wieder voll da. Wobei ich das übrigens auch früher schon zu spüren bekommen hatte, für mich als Palästinenserin ist das also nicht ganz neu. Aber dass man wegen propalästinensischem Aktivismus verhaftet wird, ist tatsächlich eine neue Dimension. Es ist schon sehr beängstigend, heute in den USA zu leben.

Cherien Dabis wurde 1976 in den USA als Tochter eines Palästinensers und einer Jordanierin geboren. Ihr preisgekrönter Erstling «Amreeka» (2009) lief in Sundance und Cannes. Nach Regiearbeiten für Serien wie «Ozark» und «Only Murders in the Building» ist «All That’s Left of You» ihr dritter Spielfilm.