Krieg in Nahost: «Wir kennen uns nur als Feinde»
Layla Alsheikh und Robi Damelin haben im Nahostkonflikt beide einen Sohn verloren. Heute setzen sich die Palästinenserin und die Israelin gemeinsam für Frieden ein. Ein Gespräch über Versöhnung und die Mauern, die sie einzureissen versuchen.
Sie seien wie Schwestern, sagen Layla Alsheikh und Robi Damelin. Die beiden verbindet der Verlust eines Kindes. Doch anstatt sich von ihrer Wut blenden zu lassen, kämpfen die 46-jährige Palästinenserin und die 80-jährige Israelin Seite an Seite für Versöhnung. Sie sind Mitglieder der israelisch-palästinensischen Hinterbliebenenorganisation The Parents Circle. Die WOZ hat die beiden am ersten Tag der Feuerpause zu einem Videogespräch getroffen. Damelin hat sich aus der israelischen Stadt Jaffa zugeschaltet, Alsheikh aus dem Dorf Battir im Westjordanland.
WOZ: Frau Alsheikh, Frau Damelin, wie haben Sie die Zeit seit dem 7. Oktober erlebt?
Layla Alsheikh: Ich bin zunächst tief erschrocken. Wir leben nahe einer israelischen Siedlung, meine Kinder hatten wegen der einschlagenden Raketen furchtbare Angst. Vor allem meine achtjährige Tochter stellt viele Fragen dazu, was gerade geschieht. Manche kann ich beantworten, andere aber nicht. Ich trauere mit allen, die ihre Familie verloren haben, besonders mit all den Kindern.
Robi Damelin: Ich muss in solchen Situationen sofort handeln. Ich weiss, was die Hinterbliebenen durchmachen. Wir versuchen, einige von ihnen zu treffen. Ich bin überzeugt: Man kann die Hamas nicht töten. Vielleicht ein paar Leute, aber nicht die Idee dahinter. Die Frage ist also, wie man jemanden dazu bringt, seine Einstellung zu ändern. Wir können es uns nicht leisten, die Hoffnung aufzugeben. Dank der Feuerpause habe ich heute Morgen in meinem Schutzraum zum ersten Mal seit Wochen die Fenster geöffnet. Das ist ein aussergewöhnliches Gefühl. In all der Dunkelheit gibt es heute etwas Hoffnung.
Kam der jüngste Gewaltausbruch für Sie überraschend?
Alsheikh: Nicht wirklich, die Menschen in Gaza leben ja seit siebzehn Jahren unter Abriegelung.
Damelin: Das kochte schon lange und kocht weiter, auch im Westjordanland. Die wenigsten können sich vorstellen, wie es ist, nach dem 7. Oktober dort zu leben: Die Siedler belästigen die Palästinenser, terrorisieren und töten sie. Dauert die Besetzung an, könnte die Lage auch dort eskalieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch wenn ich die Besetzung kritisiere, liebe ich Israel. Was am 7. Oktober passiert ist, ist durch nichts zu rechtfertigen. Es geht aber darum zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.
Sie beide haben in diesem nicht enden wollenden Konflikt einen unfassbar hohen Preis bezahlt. Frau Damelin, Ihr Sohn starb im Jahr 2002, er war 28 Jahre alt.
Damelin: David war Student und Reservist. Er hatte immer im Norden Israels gedient. Doch dann musste er gegen seinen Willen in die besetzten Gebiete. Er war Offizier und fragte mich: «Wenn ich nicht gehe, was wird dann aus meinen Soldaten?» Und er sagte: «Wenn ich gehe, werde ich die Menschen dort mit Würde behandeln.» Es ist ein schreckliches Dilemma. Er wurde von einem palästinensischen Heckenschützen getötet. Aber eine einzelne Person hat meinen Sohn getötet, nicht das ganze palästinensische Volk.
Verspürten Sie keinen Hass? Keinen Wunsch nach Rache?
Damelin: Ich war vor allem wütend, dass David in den besetzten Gebieten dienen musste. Und dass er in so eine gefährliche Situation gebracht wurde. Das hat mich mehr beschäftigt als die Frage, wer die Person war, die ihn erschossen hat.
Wie sind Sie zum Parents Circle gekommen?
Damelin: Kurz nach Davids Tod wurde ich zu einer Gruppe von trauernden palästinensischen und israelischen Familien eingeladen. Ich sah die palästinensischen Mütter und erkannte, was für eine starke Kraft wir sein könnten, wenn wir mit einer Stimme sprechen würden. Ich habe auch versucht, Davids Mörder zu treffen.
Haben Sie ihn getroffen?
Damelin: Nein. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, aber er hat geantwortet, ich solle mich von seiner Familie fernhalten. Er habe zehn Menschen getötet, um Palästina zu befreien. Aber ich erfuhr auch, dass er als Kind mit ansehen musste, wie sein Onkel von der israelischen Armee getötet wurde. Und dass er zwei weitere Onkel in der Zweiten Intifada, dem Palästinenseraufstand zwischen 2000 und 2005, verloren hatte. Er wollte sich mit seiner Aktion rächen.
Frau Alsheikh, auch Sie haben Ihren Sohn im Jahr 2002 verloren. Qusay war erst sechs Monate alt.
Alsheikh: Israelische Soldaten versprühten damals manchmal Tränengas in unserem Dorf, um die Jugendlichen zu ärgern. Es kam zu Zusammenstössen, und sie setzten dann das Tränengas überall ein. Die Leute, die im Dorf lebten, waren ihnen egal. Die Lungen unseres jungen Sohnes vertrugen das Gas nicht. Wir wollten ihn ins Spital von Bethlehem bringen, wurden aber an einem Checkpoint aufgehalten. Dann versuchten wir, ihn in die nächstgelegene Stadt Hebron zu bringen, doch israelische Soldaten hielten uns für weitere vier Stunden auf. Als wir schliesslich im Spital ankamen, war es zu spät. Qusay starb noch am selben Tag. Ich empfand so viel Hass und Wut.
Ihr Weg zum Friedensaktivismus dauerte länger als der von Frau Damelin.
Alsheikh: Ganze sechzehn Jahre. Vor allem weil ich nichts über derartige Organisationen wusste. Ein Freund, der um Angehörige trauerte, erzählte mir vom Parents Circle. Zuerst hielt ich ihn für verrückt. Aber als ich ihn zu einem Treffen begleitete und die Israelis dort sprechen hörte, nahm ich sie zum ersten Mal als Menschen wahr.
Ist das eines der grossen Probleme in diesem Konflikt: dass es nicht gelingt zu sehen, dass auch auf der anderen Seite Menschen leben, die Leid erfahren?
Alsheikh: Ja, denn wir kennen uns nur als Feinde. Als Palästinenser kommen wir nur mit israelischen Siedlern in Kontakt, die uns attackieren, und mit Soldaten, die mitten in der Nacht unser Haus durchsuchen und unsere Kinder terrorisieren.
Damelin: Fragt man Siebzehnjährige in einer Schule in Israel, wer von ihnen schon einmal einen Palästinenser getroffen hat, hebt wahrscheinlich niemand die Hand. Maximal ein Kind in einer Klasse spricht Arabisch. Im Ausland dagegen waren schon fast alle. Aber sie kennen ihre unmittelbaren Nachbarn nicht. Und die Palästinenser erhalten schwer eine Erlaubnis, um nach Israel zu kommen. Diese Abschottung erzeugt Angst, die wiederum Hass und Gewalt erzeugt.
Welche Rolle spielt dabei die Bildung?
Damelin: Wenn man in einem palästinensischen Flüchtlingslager aufwächst, braucht man keine Schulbücher, um Hass auf Israel zu lernen. Aber die Bildung ist ein entscheidender Punkt. In Israel etwa erwähnen die Schulbücher die Nakba, also die Flucht und die Vertreibung von rund 700 000 Palästinenser:innen Ende der 1940er Jahre, mit keinem Wort.
Alsheikh: Die Geschichte der anderen Seite zu kennen, ist wesentlich. Darum soll eine unserer Initiativen die Palästinenser über den Holocaust aufklären und die Israelis über die Nakba. Es geht nicht darum festzuhalten, wer das grössere Opfer ist, und auch nicht darum, Taten zu rechtfertigen. Vielmehr sollen alle verstehen, woher das alles kommt.
Auch international sind die Debatten um den jüngsten Konflikt enorm polarisiert. Das Mitgefühl mit den Opfern der kritisierten Seite scheint sich dabei oft in Grenzen zu halten.
Damelin: Die Leute schlagen sich auf eine Seite und fühlen sich dann gut. Damit importieren sie unseren Konflikt in ihre Länder. Islamophobie und Antisemitismus nehmen zu. Das ist furchterregend. Wer nicht Teil der Lösung sein kann, sollte uns in Ruhe lassen. Alles andere hilft weder mir noch Layla oder sonst einem Palästinenser oder einer Israelin. Meine dreizehnjährige Cousine wurde kürzlich in London im Zug von einem Mann angegangen, weil sie eine Kette mit Davidstern trug. Das passiert gerade weltweit.
Alsheikh: Wir sind ja dankbar, dass jetzt das Bewusstsein dafür gestiegen ist, dass es eine Lösung für diesen Konflikt braucht. Zuvor schienen alle vergessen zu haben, was mit uns und vor allem in Gaza geschieht. Aber wenn dadurch Konflikte in anderen Ländern geschürt werden, hilft uns das überhaupt nicht.
Im Parents Circle suchen Sie seit Jahren das Gespräch mit Schüler:innen, Erwachsenen und Hinterbliebenen. Schon vor dem 7. Oktober fühlten sich einige davon provoziert.
Damelin: Natürlich. Wenn man die Überzeugungen einer Person angreift, wühlt das auf. Vor ein paar Jahren etwa stand ein Mädchen in einer Klasse auf und sagte mir, mein Sohn hätte es verdient zu sterben.
Wie haben Sie reagiert?
Damelin: Die meisten hätten wohl wütend den Raum verlassen. Aber das Mädchen musste schon sehr mutig sein, um mir das ins Gesicht zu sagen. Ich fragte sie, wen ihre Familie verloren habe und wie sie um diese Person trauere. Daraufhin umarmte sie mich.
Alsheikh: Manche Freunde werfen mir vor, die Besetzung hinzunehmen, sie halten mich für eine Verräterin. Dabei bedeutet ein Gespräch ja nicht, die Besetzung zu akzeptieren. Wir müssen aber einen Weg finden, um miteinander leben zu können. Es ist mir egal, ob wir einen, zwei oder Tausende Staaten haben. Ich will mich nur sicher fühlen.
Was antworten Sie Menschen, die kritisieren, dass Ihr Engagement nichts daran ändern konnte, dass nun erneut Tausende ums Leben kommen?
Alsheikh: Das haben wir schon vor dem 7. Oktober gehört, dass wir in all den Jahren nichts erreicht hätten. Aber als der Parents Circle 1995 gegründet wurde, basierte das auf der Idee eines einzelnen Mannes. Nun sind wir mehr als 700 Familien.
Damelin: Sollen wir uns etwa einfach weiter umbringen? Die einzige Option ist, miteinander zu sprechen. Ich sage nicht, dass wir damit über Nacht Frieden erreichen können. Wir sind nicht naiv. Aber wenn wir uns nie gegenseitig kennenlernen, wie sollen wir dann je diesen Konflikt beenden?
Was lässt Sie an dem Glauben festhalten, dass ein friedliches Zusammenleben eines Tages möglich sein wird?
Damelin: So etwas wie jetzt haben wir noch nie erlebt. Aber vielleicht wird für manche genau das der Auslöser sein, um Gespräche mit der anderen Seite zu suchen. Hoffnung gibt mir, wenn ich sehe, dass Leute, die eben erst Familienmitglieder verloren haben, nun trotzdem von Frieden sprechen.
Alsheikh: Denken Sie an andere Konflikte und Ereignisse aus der Geschichte. Wer hätte etwa vor 75 Jahren gedacht, dass Deutschland einen Botschafter in Israel haben würde? Eines Tages wird auch das hier enden, auch wenn wir nicht wissen, wie und wann.