Ständemehr: Eine mathematische Revision, vielleicht?
Mit der Kompass-Initiative wollen die Initiant:innen erreichen, dass Staatsverträge dem obligatorischen Referendum mit Ständemehr unterstehen – sodass die kleinen (Deutschschweizer) Kantone ein Volksmehr aushebeln könnten.
Diese Debatte überdeckt jedoch eine wichtigere Frage: Müsste das Ständemehr nicht abgeschafft oder zumindest reformiert werden? Historisch gesehen entstand der Schweizer Bundesstaat aus dem Staatenbund der Kantone vor 1848, weswegen ein Ständemehr in der Verfassung festgesetzt wurde. Auch in deren Totalrevision von 1999 wird schon in Artikel 1 festgehalten: «Das Schweizervolk und die Kantone […] bilden die Schweizerische Eidgenossenschaft.» Das Ständemehr abzuschaffen, würde also eine umfassende Verfassungsrevision erfordern.
Wieso aber nicht eine mathematische Revision fordern? Man könnte etwa verlangen, dass ein Volksmehr erst dann überstimmt wird, wenn sich zwei Drittel der Kantone (15,5 von 23) dagegen stellen. Das wäre immer noch eine Hürde: In der EWR-Abstimmung 1992 haben 16 Kantone die Vorlage abgelehnt. Hätte es damals – statt bloss 49,7 Prozent Ja-Anteil – ein Volksmehr gegeben, wäre dieses trotzdem gekippt worden. Bei der Konzernverantwortungsinitiative 2020 war das Volk dafür, 14,5 Kantone dagegen – hier wäre ein Zwei-Drittel-Ständemehr um eine Standesstimme verpasst worden.
Eine Initiative mit dem Titel «Das Volk zählt mehr. Für die Beibehaltung eines Ständemehrs» würde allein eine Änderung von Art. 142, Abs. 2 der Verfassung vorschlagen: Statt «Die Vorlagen, die Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet werden, sind angenommen, wenn die Mehrheit der Stimmenden und […] der Stände sich dafür aussprechen», hiesse der zweite Satzteil: «… wenn sich die Mehrheit der Stimmenden dafür und nicht zwei Drittel der Stände dagegen aussprechen».
Eine solche Initiative hätte durchaus Chancen bei Volk … und Ständen! Mit den Westschweizer Kantonen, beiden Basel, Bern, Zürich und drei weiteren mittelgrossen Kantonen käme sie durch. Wer lanciert eine Volksinitiative «Das Volk zählt mehr»?