Krieg gegen die Ukraine: Die Katastrophe in der Katastrophe

Nr. 23 –

Der Bruch des Kachowka-Staudamms wird das Leben in der Südukraine jahrzehntelang beeinflussen. Die Behörden warnen vor Minen, die Richtung Schwarzes Meer geschwemmt werden.

Früh am Morgen kam der Anruf. «Es tut mir so leid, was passiert ist», sagt ein besorgter Bekannter. «Der Staudamm ist gebrochen.» Sprachlos und unter Schock, so habe sie sich gefühlt, erzählt Olia Hercules am Telefon mit gebrochener Stimme. Die 39-jährige Autorin und Aktivistin, die in London lebt, ist in der von russischen Truppen besetzten Ortschaft Kachowka aufgewachsen. «Die Russen nehmen uns unsere Lebensgrundlage weg», sagt Hercules. «Die Menschen in dieser Gegend fischen und betreiben Landwirtschaft.»

Maschinenöl im Dnipro

In den frühen Morgenstunden des 6. Juni brach der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro in der Region Cherson. Es handelt sich um eine Katastrophe in der Katastrophe, deren ganzes Ausmass derzeit noch gar nicht abgeschätzt werden kann. Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba beschreibt die Überschwemmungen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter «als eine der grössten von Menschen verursachten Katastrophen in den vergangenen Jahrzehnten».

Erste Bilder und Videos zeigten ältere Menschen, die evakuiert wurden, verendete Tiere, ganze Häuser, die weggeschwemmt wurden. Mehr als 16 000 Menschen und achtzig Ortschaften sind laut dem Gouverneur von Cherson direkt von den Fluten betroffen, auch in dem Gebiet, das derzeit noch immer von russischen Truppen besetzt ist. Die ukrainischen Behörden und Hilfsorganisationen warnen jetzt schon vor den vielen Minen, die in den vergangenen Monaten an den Flussufern versteckt wurden und nun mit den Wasser- und Schlammmassen flussabwärts Richtung Schwarzes Meer gespült werden und womöglich weit weg vom Flussbett liegen bleiben.

Vieles deute darauf hin, dass Russland die Verantwortung trage, sagt Oleksii Honcharenko, Parlamentsabgeordneter der Partei ­«Europäische Solidarität» des einstigen ukrainischen Staatspräsidenten und Oligarchen Petro Poroschenko. «Wir werden die Folgen dieses Dammbruchs jahrzehntelang spüren», so Honcharenko. Der Politiker meldet sich telefonisch aus der Stadt Cherson, zu der in den ersten Stunden der Überflutung kaum Journalistinnen und Fotografen Zugang hatten.

In Cherson, das etwa sechzig Kilometer flussabwärts vom Kachowka-Damm liegt, rieche es nach Öl, sagt Honcharenko. Er erklärt, dass durch den Dammbruch mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnipro geflossen seien und nun ins Schwarze Meer gespült würden, an das neben der Ukraine auch die EU-Länder Rumänien und Bulgarien grenzen.

Evakuierung in andere Landesteile

Für das Atomkraftwerk Saporischschja, das sich nördlich des Kachowka-Staudamms befindet und das grösste AKW Europas ist, sieht die Internationale Atomenergie-Organisation zurzeit keine «unmittelbare» Gefahr. Die Betriebssituation bleibe aber heikel, da sich das Kraftwerk ebenfalls an der Front befinde und von den Russen kontrolliert werde.

Wie Honcharenko sehen auch die meisten westlichen Beobachter:innen Russland in der Verantwortung für den Dammbruch. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte auf Twitter, dass Russland für die in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen bezahlen müsse. Viele Bewohner:innen der betroffenen Region, die seit Kriegsbeginn unter russischem Beschuss, unter Besetzung und Folter zu leiden hatten, wurden zunächst in die nahe gelegene Stadt Mykolajiw gebracht und sollen auf andere Orte verteilt werden. Auch der Kyjiwer Oberbürgermeister Vitali Klitschko hat angekündigt, mindestens hundert Kinder aus Cherson in der Hauptstadt aufzunehmen.