Nach der Flut: Trauer, Wut und Entschlossenheit

Nr. 24 –

Sie versuchen zu retten, was zu retten ist. Aber nach der früheren russischen Besatzung wissen die Menschen im Katastrophengebiet einmal mehr nicht, wie es weitergehen soll. Ein Besuch in einem der rund achtzig betroffenen Dörfer.

Lydiya Bidnitschenko und ihr Schwiegersohn Wolodymyr Saporoschtschenko zeigen wie hoch das Wasser ihr Haus überflutet hat
So hoch stand das Wasser im Hof von Lydiya Bidnitschenko in der Ortschaft Afanassijiwka. Bei den Aufräumarbeiten hilft der Schwiegersohn Wolodymyr Saporoschtschenko mit.

Sachte nimmt Leonid Bidnitschenko die Lupe in die Hand, die er normalerweise verwendet, um sein Kreuzworträtsel zu lösen oder die Zeitung zu lesen. Er legt sie ordentlich auf dem Tisch ab, neben den Kugelschreiber, neben die beiden Brillenetuis mit den Lesebrillen, neben die Tischuhr. Dann setzt sich der 83-Jährige in Baseballcap und übergrossem T-Shirt, das er von einer Hilfsorganisation bekommen hat, langsam auf den Stuhl und atmet aus.

Er sagt nichts, blickt nur fassungslos um sich, auf den Schlamm, der auf dem Fussboden liegt, die nassen Kissen und Decken auf dem Sofa, das aufgeweichte Papier der Tapete. Sein Haus war sein ganzes Leben. Und erst jetzt, da das Wasser nach der Flut langsam zurückgeht, werden die Schäden sichtbar.

Im Nebenzimmer hält sich seine Ehefrau Lydiya, Kopftuch, blaues Kleid mit Blumenmuster, die Hände vor den Mund, als sie den Kleiderschrank öffnet, aus dem das Wasser tropft. Es riecht modrig, es riecht nach See. Hier drinnen werden die beiden so bald nicht schlafen können, sie müssen – wie so viele andere Betroffene auch – bei Verwandten unterkommen.

Wolodymyr Saporoschtschenko watet durchs kniehohe Wasser vor einer Scheune

Explosionen in der Ferne

Das Ehepaar Bidnitschenko hat sein ganzes Leben im Dorf Afanassijiwka verbracht, 41 Kilometer nördlich der Stadt Cherson, im Oblast Mykolajiw. Vor der Flut war die Ortschaft fast vollständig vom Inhulez umgeben, einem Nebenfluss des Dnipro. Nachdem etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Afanassijiwka der grosse Kachowka-Staudamm zerstört worden war, überfluteten Wassermassen riesige Gebiete, wo Zehntausende Menschen leben. Auch der viel kleinere Nebenfluss Inhulez lief über die Ufer. In Afanassijiwka sassen die Einheimischen zuerst wie auf einer Insel fest, wurden dann evakuiert und in andere Dörfer gebracht.

Eine Woche später bringen freiwillige Helfer:innen Trinkwasser, Lebensmittel und Kleidung noch immer mit Booten oder zu Fuss watend in die Ortschaft. Laut einer Nachbarin des Ehepaars Bidnitschenko sei mittlerweile wieder rund die Hälfte der Bewohner:innen zurückgekehrt, so genau wisse das aber niemand. Vor dem Krieg hatte Afanassijiwka etwa 160 Einwohner:innen, sagt sie. Mittlerweile wohnen vor allem noch die Älteren hier, die Pensionierten. Jene, denen aufgrund der monatlich knapp siebzig Franken Pension die Mittel fehlen, irgendwo sonst noch mal neu anzufangen. Nun versuchen sie, von ihrem Besitz zu retten, was zu retten ist – während aus der Ferne immer wieder Explosionen zu hören sind. Die Front befindet sich bloss knapp vierzig Kilometer Luftlinie weiter östlich.

«Wir hatten alles», sagt Wolodymyr Saporoschtschenko, der 64-jährige Schwiegersohn des Ehepaars Bidnitschenko. Er meint damit nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Lebensmittel aus den Gemüsegärten und Trinkwasser aus den Brunnen. «Nun können wir nicht mal mehr fischen.» Er krempelt seine Hosen ein wenig hoch und sucht hinter dem Wohnhaus nach einem Beil, um eine der Türen aufzubrechen, die sich nach dem Hochwasser nicht mehr öffnen lassen. Das Wasser gehe zwar zurück, aber langsam. Er öffnet das Tor, das in den Garten und zur Scheune führt, die noch immer knapp einen Meter tief unter Wasser steht.

Eine Mischung aus Trauer und Wut fühle er, sagt Saporoschtschenko. Darüber, dass seine Schwiegereltern ihr Lebensende so verbringen müssten – als wären die langen Monate unter russischer Besatzung bis zur Befreiung durch die ukrainische Armee im vergangenen Herbst nicht schon genug gewesen.

«Wir sind hier aufgewachsen und haben unser ganzes Leben hier gelebt», sagt er, «es bricht mir das Herz.» Neben der Scheune treiben tote Fische auf dem Wasser. Er klettert über Holzbalken nach hinten und findet einen Eimer und die Axt. Und macht sich an die Arbeit, öffnet Türen, stellt Möbel auf. Vieles müsse entsorgt werden, sagt Saporoschtschenko und öffnet die rot gestrichene Holztür zur Vorratskammer, in der Zwiebeln schwimmen. «Wenn, dann wäre das hier der Ort gewesen, wo wir uns vor Luftangriffen hätten schützen können.»

An die Langzeitfolgen, auch Krankheiten, kann vor Ort noch niemand denken. Vor wenigen Tagen teilten die Expert:innen des ukrainischen Gesundheitsministeriums mit, dass die Verschmutzung des Wassers zwar nicht aussergewöhnlich hoch sei, aber dass in der Region Cherson mittlerweile auch Escherichia-Coli-Bakterien nachgewiesen worden seien.

Lydiya Bidnitschenko entfernt nasse Textilien in ihrem überfluteten Haus

Wohin fliehen?

Gemäss offiziellen ukrainischen Stellen wurden seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms etwa achtzig Siedlungen in den nebeneinanderliegenden Oblasten Mykolajiw und Cherson überflutet. Die Anzahl der Opfer wurde in den vergangenen Tagen erneut nach oben korrigiert und liege mittlerweile bei mindestens zwölf Toten, zwanzig Verletzten und 42 Vermissten, teilte die Militäradministration von Cherson mit. Die meisten davon zähle das Gebiet, das sich unter russischer Kontrolle befindet und wo unabhängige Beobachter, internationale Hilfsorganisationen und Journalistinnen keinen Zugang haben.

Yewhen Ryschtschuk hat Zugang, zumindest zu Informationen. Er ist der gewählte Bürgermeister der besetzten Kleinstadt Oleschki, die zu neunzig Prozent überflutet wurde. Zuerst, erzählt Ryschtschuk, der einige Wochen nach Kriegsbeginn nach Kyjiw geflüchtet war und seither in der Hauptstadt im Exil lebt, hätten Leute angerufen, die nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Dann jene, die berichteten, dass die Russen sie nicht gehen liessen.

«Ich gehöre zu den Bürgermeistern, deren Telefonnummern etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung haben», sagt Ryschtschuk. «Das bedeutet, dass ich nicht schlafen kann, weil mich die Leute den ganzen Tag und rund um die Uhr anrufen.» Der Ort, an dem in Oleschki am meisten Leute untergebracht seien, sei jetzt das Spital. Ein Telefongespräch, das sich ihm am meisten eingeprägt habe: «Als der Chefarzt der Klinik anrief und sagte, dass einer seiner Freiwilligen zwischen den Häusern eine Leiche schwimmen sah.» Dass die russischen Invasoren den Staudamm absichtlich zerstört haben, steht für ihn ausser Frage. «Ich traue ihnen mittlerweile alles zu», so der Bürgermeister.

Dafür, dass Russland für den Dammbruch verantwortlich ist, spricht derzeit vieles. Laut ukrainischem Sicherheitsdienst SBU sollen das mittlerweile auch abgehörte Telefongespräche zwischen russischen Militärs bestätigen. Und das unabhängige norwegische Seismologieinstitut Norsar erklärte, dass zum Zeitpunkt des Dammbruchs eine Explosion im betreffenden Gebiet festgestellt worden sei. Der genaue Hergang wird noch untersucht – laut Präsident Wolodimir Selenski bereits auch vom Internationalen Strafgerichtshof.

In einem sind sich indes alle einig: Erneut sind die ukrainischen Zivilist:innen die Leidtragenden. «Wir werden nicht aufgeben. Wir sind Ukrainer», sagt aber der 64-jährige Wolodymyr Saporoschtschenko fest entschlossen. «Wir werden das alles wieder aufbauen.» Fast so, als würde er es sich selbst einreden müssen.