Krieg gegen die Ukraine: Befreit, aber trotzdem nicht frei
Vor einem Jahr hat die ukrainische Armee die Stadt Cherson zurückerobert. Doch seither greifen russische Truppen mit Raketen, Granaten und Drohnen an. Viele Bewohner:innen sind deshalb ins benachbarte Mykolajiw geflohen.
Wie kleine Kinder liefen Viktoria Jarosch und ihre Nachbar:innen am 11. November 2022 nach draussen. Mit Freudentränen in den Augen fielen sie sich in die Arme, als die ukrainischen Truppen die Kleinstadt Antoniwka bei Cherson nach mehr als acht langen Monaten der russischen Besetzung erreichten. «Mein Gehirn konnte nicht verarbeiten, was da passierte», erzählt die heute Neunzehnjährige. «Wir hatten kein Handynetz, keinen Internetzugang, kein Licht und kein fliessendes Wasser, aber ich glaubte bis zuletzt, dass Cherson und seine Umgebung wieder unter ukrainischer Kontrolle stehen würden.»
An diesem Vormittag Ende Oktober sitzt Jarosch im verlassenen Klassenzimmer einer Internatsschule im etwa sechzig Kilometer von Antoniwka entfernten Mykolajiw. Hier lebt sie seit bald einem Jahr. Denn auf die Befreiung Chersons und der umliegenden Dörfer folgte nicht die erhoffte Normalität.
Die Stadt Cherson war die einzige ukrainische Regionalhauptstadt, die die russischen Truppen seit Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 in nur wenigen Tagen unter ihre Kontrolle bringen konnten. Und das mit fatalen Folgen: Menschenrechtsorganisationen berichten von mehr als 35 identifizierten Hafteinrichtungen, in denen Inhaftierte während der acht Monate russischer Besetzung Folter, einschliesslich sexueller Gewalt, ausgesetzt waren.
Bereits dritte Fluchtbewegung
Im Herbst 2022, kurz vor der ukrainischen Rückeroberung, zogen sich die russischen Truppen auf Befehl von Verteidigungsminister Sergei Schoigu wieder zurück. Viktoria Jarosch holt ihr Handy aus der Jacke und zeigt Fotos, auf denen sie mit ukrainischen Soldaten auf dem Freiheitsplatz in Cherson zu sehen ist. Sie erinnert sich, wie sich die Bewohner:innen in den Tagen nach der Befreiung mit ukrainischen Flaggen dort versammelten und ukrainische Lieder sangen. Sie fielen den Soldaten um den Hals, die Bilder gingen um die Welt. An den Häuserfassaden hingen damals noch die Plakate, die das völkerrechtswidrige Scheinreferendum ankündigten, in dessen Zuge im September 2022 über den Beitritt Chersons zur Russischen Föderation abgestimmt wurde. Doch all das schien endlich keine Rolle mehr zu spielen.
Jarosch strahlt, wenn sie an den Moment zurückdenkt. Bei all der Euphorie über die zurückgewonnene Freiheit habe sie ihre Notfalltasche ausgepackt und einfach zur Seite geworfen. «Ich war so glücklich. Ich dachte, das wars. Unsere Leute sind schon in der Stadt, und ich kann mit meinem Leben weitermachen», sagt sie. Ein Jahr ist seither vergangen. Doch nach der Befreiung Chersons begann der fast tägliche Beschuss der Stadt durch die russischen Truppen, die noch immer auf der anderen Seite des Flusses Dnipro stationiert sind.
«Einmal blieb ich drei Tage lang im Schutzkeller. Bis ich es nicht mehr aushielt», erzählt Jarosch. Schliesslich packte die junge Frau eine Decke und ihr Telefon mit Ladegerät und floh in die nahe gelegene Stadt Mykolajiw. Das rot-schwarz karierte Hemd und die schwarze Hose aus Kunstleder, die sie beim Treffen trägt, habe sie erst dort von freiwilligen Helfer:innen bekommen. Untergebracht wurde Jarosch in einer Internatsschule, die im März 2022 zu einer Unterkunft für Geflüchtete umfunktioniert wurde. Die allermeisten Bewohner:innen stammen aus dem Oblast Cherson. Frauen mit Kindern, Familien und ältere Menschen, die sich im nahe gelegenen Krankenhaus einer Dialyse unterziehen müssen.
Am Eingang, hinter einer schweren Holztür, sitzt eine mürrische Aufpasserin. Links im Erdgeschoss befindet sich der Speisesaal mit gedecktem Mittagstisch. An den Wänden der dunklen Gänge hängen Bilder von Löwen und Wölfen, die eine heimelige Atmosphäre versprühen sollen. Am Informationsboard hängen noch die Stundenpläne aus den ersten Wochen im Februar 2022. «Die lassen wir hier, als Erinnerung an unser Leben vor dem Krieg», sagt eine Ukrainischlehrerin im Vorbeigehen. Daneben warnen Flyer die Jugendlichen vor Drogen und Alkohol und der Infektion mit HIV. Die Klassenzimmer sind indes leer, der Unterricht wird derzeit online geführt, nur die Lehrerinnen sind vor Ort. Zu gefährlich sei die Lage in Mykolajiw, erklären die Behörden der Stadt.
Tagsüber, sagt Schuldirektorin Halyna Makarowa, gingen die Bewohner:innen arbeiten oder spazieren. Das Rote Kreuz helfe mit den Dokumenten und der Koordination. Manche Familien blieben einen Monat, andere permanent. «Vieles hängt davon ab, wie schnell die Menschen eine Arbeit finden und dann eine Wohnung mieten können», sagt sie. «Einige entscheiden sich, nach Moldau oder Polen auszuwandern. Andere bleiben wohl bis zum Ende des Krieges.»
Gleich nach Kriegsbeginn habe es eine erste grosse Fluchtbewegung nach Mykolajiw gegeben, sagt Makarowa – aus Cherson und den umliegenden umkämpften Gebieten. Mehr als 200 Menschen wurden im ersten Kriegssommer hier untergebracht. «Wir könnten noch mehr aufnehmen und werden das im Notfall auch tun.» Aber gute Lebensbedingungen könne man nur für 150 Menschen schaffen.
Nach der Rückeroberung Chersons folgte eine zweite Fluchtbewegung, mittlerweile könne man von einer dritten sprechen. «Wir wussten nicht mehr, wie es weitergehen soll», sagt die 32-jährige Irina Betsenko, die mit ihren beiden Kleinkindern auf einer Bank vor dem Schulgebäude sitzt. Anfang Oktober war die Familie aus Cherson geflüchtet. Den Entschluss fasste Betsenko freiwillig. Andere Familien mit Kindern nahe der Front wurden in den vergangenen Wochen zwangsevakuiert.
Denn oft könnten Erwachsene, die Häuser besässen, diese nicht loslassen, sagt die Direktorin Makarowa. «Gleichzeitig haben sie aber Kinder, deren Leben durch die Entscheidung, zu bleiben, bedroht ist.» Die Menschen in den befreiten Gegenden sind nach den Kriegshandlungen und der Flut, die auf die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni folgte, auf humanitäre Hilfe angewiesen (siehe WOZ Nr. 24 / 23). Auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium benötigen laut den Vereinten Nationen 17,6 Millionen Menschen diese Hilfe.
Viele bekannte Gesichter
Die Stadt Mykolajiw, die zu Kriegsbeginn ebenfalls heftigen Angriffen ausgesetzt war und aus der viele Menschen geflohen sind, ist mittlerweile wieder voller Leben. Auf den Plätzen spielen Kinder, fahren mit Elektrorollern, essen in den ungewöhnlich warmen Herbsttagen noch Eis und Zuckerwatte im Park. Doch viele der Passant:innen erzählen, dass sie nicht von hier sind. Von den mehr als 147 000 Binnengeflüchteten, die seit Kriegsbeginn im Oblast Mykolajiw registriert sind, stammt der Grossteil aus dem benachbarten Oblast Cherson.
«Wenn ich einkaufen gehe, sehe ich viele bekannte Gesichter. Im Supermarkt um die Ecke gibt es sogar ein Mädchen aus meiner Nachbarschaft. Wir reden oft miteinander, fragen einander, wie es uns geht und wann wir wieder nach Hause kommen», erzählt Viktoria Jarosch. Doch jede Woche erfahre sie aus den Nachrichten, dass Cherson wieder bombardiert werde. Sie sei froh, dass sie im Internat eine Arbeit gefunden habe. Dort hilft sie bei den Renovierungsarbeiten und Dekorationen. Trotzdem fühle es sich im Moment an, als ob sie von einem Tag zum nächsten lebe. Vor dem Krieg habe sie in Kiew Design studiert. Kurz vor dem 24. Februar fuhr sie auf Besuch zu ihrer Grossmutter nach Antoniwka – und fand sich plötzlich unter russischer Besetzung wieder. Nach Kiew könne sie nicht mehr zurück. Ihr Haus befand sich in einem Vorort der Hauptstadt und brannte während des russischen Angriffs nieder.
Einmal, nach Neujahr, war Jarosch kurz zurück in Cherson und Antoniwka. «Ich habe es bereut, weil ich dabei wieder unter Beschuss geriet.» Jaroschs 63-jährige Grossmutter lebt noch immer dort. «Sie will nicht weg», sagt die junge Frau und bricht in Tränen aus. So oft es die Verbindung zulässt, sprechen die beiden am Telefon. «Manchmal frage ich, ob sie nicht doch für ein paar Tage nach Mykolajiw fahren möchte. Aber meistens sprechen wir darüber, wie die Nacht war und ob viel geschossen wurde.» Landesweit ist Cherson seit Monaten jene Region, aus der die meisten Explosionen vermeldet werden. Zuletzt griffen die russischen Truppen vermehrt mit gelenkten Flugbomben an.
Südukraine
Die allgemeine militärische Lage fasste Walerij Saluschnyj, der Chef der ukrainischen Streitkräfte, vor kurzem in einem viel beachteten Interview mit dem «Economist» zusammen: Die Situation an der Front sei «in eine Sackgasse geraten». Er warnte, dass die aktuelle ukrainische Offensive Gefahr laufe, sich zu einem langwierigen Stellungskrieg zu entwickeln, der sich über Jahre hinziehen könne. Genau wie im Ersten Weltkrieg habe man ein technologisches Niveau erreicht, «das uns vor eine Pattsituation stellt». Derweil finden in der Stadt Awdijiwka im Donbas heftige Kämpfe statt, manche sprechen von einem zweiten Bachmut.
«Wer sonst verteidigt uns?»
Die gross angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine in diesem Jahr bleibt weit unter den Erwartungen, nachdem schon die Befreiung von Cherson und Umgebung den Bewohner:innen nicht den erhofften Frieden gebracht hat. Doch der Beschuss sei noch immer besser als das Leben unter den Besatzern, sagt Viktoria Jarosch. Das könne man nur dann verstehen, wenn man es selbst erlebt habe.
«Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Geschäft. Dann kommen plötzlich die Besatzer rein und laufen mit ihren Gewehren auf die Menschen gerichtet herum, weil sie jemanden suchen. Zu der Zeit hat meine Mutter in Kiew in einem Militärkrankenhaus gearbeitet und dort unsere Soldaten behandelt. Und mein Onkel ist seit 2014 Soldat im Donbas.»
Es helfe ihr, mit den anderen Bewohner:innen der vorübergehenden Unterkunft zu sprechen, sagt Jarosch. Sie fühle sich wie in einer grossen Familie. Zu ihrer eigenen habe sie, abgesehen von der Grossmutter, kein gutes Verhältnis. «Manchmal kommt es vor, dass ich allein dasitze und denke, oh mein Gott, was habe ich da in Cherson erlebt?! Dann hilft es, sich auszutauschen.»
Im dritten Stock des Internats starrt Viktoria Jarosch auf die Wand, die sie vor einigen Tagen fertig gestrichen hat. In Grün, weil die Farbe Fröhlichkeit ausstrahle, Helligkeit, etwas Positives. Hier, in diesem Zimmer, spielen gewöhnlich die Kinder und schauen Zeichentrickfilme. «Wir sind alle froh, dass sie da sind und Spass haben. Das hebt die Stimmung», sagt Jarosch. «Nur abends merken wir, dass sie Angst haben, und tagsüber wollen sie oft nicht rausgehen.»
Damit, dass sie in Mykolajiw sei, habe sich nur ein Teil von ihr abgefunden. «Ich habe Freunde gefunden, und manchmal frage ich mich, ob das hier mein neues Zuhause sein wird. Aber es wird niemals dasselbe sein wie in Cherson.» Und dann treibt sie noch ein anderer Gedanke um: Nachdem die ukrainischen Soldaten am 11. November gekommen waren, wollte Jarosch mit ihnen kämpfen. Man habe ihr geraten, sich lieber um die Grossmutter zu kümmern. Zudem sei sie mit ihren 1,63 Metern zu klein. «Dabei bin ich stärker, als ich aussehe», sagt sie. Auf einem ihrer Fotos auf Telegram trägt sie Camouflage und eine Waffe in der Hand. Sie habe sich so fotografiert, um sich vorzustellen, wie es wohl wäre, selbst zu kämpfen. «Der Gedanke lässt mich noch immer nicht los. Denn wer ausser uns wird unser Land verteidigen?»