Cyberkriminalität in Südostasien : Wenn das Verbrechen systemrelevant ist
Verschleppt, erpresst, geschlagen – südostasiatische Betrugssyndikate beuten skrupellos Menschen aus. China spielt dabei eine dubiose Rolle.

Der chinesische Schauspieler Wang Xing wurde Anfang Januar 2025 unter dem Vorwand eines Castings nach Thailand gelockt und von Schleppern zur Zwangsarbeit in Betrugszentren in Myanmar entführt. Neben Myanmar sind Laos und vor allem Kambodscha die Hochburgen dieser «scam factories», in denen Schätzungen zufolge mehr als 350 000 Menschen damit beschäftigt sind, Internetnutzer:innen aus aller Welt durch Onlineglücksspiel, Investitionen in Kryptowährungen auf Fake-Plattformen oder «Liebesbetrug» auf Datingseiten um ihr Geld zu bringen. Manche arbeiten aus freien Stücken in den Betrugsfabriken. Andere werden mit falschen Versprechen von Lohn und Brot angelockt oder gar verschleppt und zur Arbeit gezwungen.
An der Spitze der global agierenden Syndikate stehen Chinesen mit engsten Verbindungen sowohl zu den lokalen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Militär als auch zu den Mächtigen in Peking. Jason Tower, Scam-Experte und ehemaliger Myanmar-Landesdirektor der inzwischen durch Präsident Donald Trump und Elon Musk geschlossenen Bundeseinrichtung United States Institute of Peace, sagte im März 2025 vor der US-China Economic and Security Review Commission (USCC): «Eine breite Palette chinesischer Sicherheits- und Parteiakteure hat massgeblich zum rasanten Aufstieg der kriminellen Netzwerke in den drei Ländern beigetragen.»
Welche Rolle spielt China?
Vorsichtigen Schätzungen zufolge beträgt der weltweite Jahresumsatz der Betrügersyndikate 50 bis 75 Milliarden US-Dollar. «Damit ist transnationaler Betrug möglicherweise die dominierende Wirtschaftsaktivität in der gesamten Mekong-Subregion. Er entspricht fast der Hälfte des gesamten Bruttoinlandprodukts der drei Länder», schreibt Jacob Sims in einem Mitte Mai 2025 im Klub der Auslandskorrespondent:innen in Bangkok vorgestellten Report. Sims ist Gastdozent an der Harvard-Universität und ein führender Experte für transnationale Kriminalität und Menschenrechte in Südostasien.
Welche Kräfte in China wie mit den Betrugssyndikaten umgehen, ist kaum zu durchschauen. Sims schreibt: «Die Reaktion Chinas ist insgesamt mehrdeutig, wobei einzelne Behörden und Akteure unterschiedliche Rollen spielen.» Der Fall von Wang Xing jedenfalls katapultierte die Betrugszentren für einige Wochen in die asiatischen und internationalen Medien. Auf Druck von Chinas Regierung und Thailand kamen in Myanmar Tausende Arbeiter:innen aus den Betrugszentren des Landes frei. Viele der Freigelassenen berichteten über grausame Misshandlungen. Eine Susan aus den Philippinen erzählte dem Büro der Vereinten Nationen für Suchtstoff- und Verbrechensbekämpfung (UNODC): «Gegen Ende wurde ich an einem Tag dreizehnmal geschlagen. Ich wurde gezwungen, meine Eltern anzurufen und sie um 7000 Dollar Lösegeld zu bitten. «Als sie am Ende einsahen, dass ich kein Geld liefern konnte und also nutzlos für sie war, liessen sie mich gehen.»
In heimlich aufgenommenen und auf Youtube hochgeladenen Handyvideos sind grausamste Szenen zu sehen. Gefesselte Menschen werden verprügelt oder mit Elektroschockern gequält. Ein Mann, dessen Name nicht genannt und dessen Gesicht nicht gezeigt wird, berichtete in einem Youtube-Video nach seiner Freilassung von Misshandlungen. Ihm sei zudem angedroht worden, ihn an Organhändler in China zu verkaufen, wenn er nicht das angeordnete Arbeitspensum erfülle.
Unter dem Schutz der Eliten
Trotz der kurzzeitigen Aufmerksamkeit und der Aktionen der Strafbehörden scheint es unwahrscheinlich, dass den Syndikaten nun vollständig das Handwerk gelegt wird. «Zahlreiche Indizien legen nahe, dass der Schutz der Betrugsindustrie für die herrschenden Eliten in Myanmar, Kambodscha und anderen Ländern aufgrund der Profitabilität der Branche und der Art der staatlichen Beteiligung mittlerweile von strategischem Interesse ist», sagte Tower der USCC. In Myanmar ist laut Tower die Bereitschaft des Militärs, mit kriminellen Gruppen Allianzen zur Machtkonsolidierung zu bilden, die Grundlage für den Boom der Betrugszentren. Zudem ist China der wichtigste Unterstützer der Junta.
Die Betrugszentren in Laos und Kambodscha wiederum gerieten gar nicht erst ins Scheinwerferlicht. Beide Staaten gelten unter Sicherheitsexperten längst als Vasallenstaaten Chinas. In Kambodscha wurden die chinesischen Glücksspielsyndikate von den Eliten schon 2015 mit offenen Armen empfangen. Das Geschäft mit dem Betrug hat sich im Königreich zu einem beispiellos profitablen Wirtschaftssektor entwickelt. «Offizielle Schätzungen reichen von 12,5 bis 19 Milliarden US-Dollar pro Jahr, was bis zu sechzig Prozent des Bruttoinlandprodukts entspricht und die Bekleidungs- und Textilindustrie als den grössten formellen Sektor des Landes deutlich übertrifft», schreibt Sims. Er befürchtet, dass das Multimilliarden-Dollar-Geschäft der Cybercrime-Industrie in Südostasien als systemrelevante Branche schon bald «too big to fail» sein könnte.
Welche tatsächliche Rolle das offizielle China in der Betrugsökonomie spielt, ist unklar. Sims sagt: Einerseits bestünden klare Verbindungen zwischen einigen organisierten Kriminellen und den oberen Rängen der Kommunistischen Partei Chinas. Andererseits sehe China die Bedrohungen, die von dieser Branche in Kambodscha ausgehe, und reagiere entsprechend.
Ausbau des Apparats
China nutzt das Vorgehen gegen die Betrugssyndikate aber auch, um seinen sicherheitspolitischen Einfluss in Südostasien auszubauen. Sowohl Tower als auch Sims sind überzeugt, dass die Volksrepublik die Länder drängt, sich unter dem Vorwand der Bekämpfung der Kriminalität seinem Sicherheitsmodell «Global Security Initiative» (GSI) zu unterwerfen. Mit anderen Worten: China etabliert Filialen seiner Sicherheitsbehörden in Myanmar, Laos und Kambodscha wie auch in Thailand und schafft damit einen Apparat, der letztlich gegen Chinakritikerinnen und Dissidenten vorgeht. Gegenüber Thailand hat China dabei ein besonderes Druckmittel in der Hand: den Tourismus. China ist mit Abstand der wichtigste Markt für Thailands Reisebranche. Nach der Entführung von Wang Xing und der folgenden antithailändischen Propaganda in chinesischen Medien brach die Zahl chinesischer Thailandtourist:innen ein.
Auf Druck Chinas geht Thailand mit einer verstärkten militärischen Kontrolle der Grenze zu Myanmar gegen den Menschenhandel krimineller Organisationen vor. Mehr als 7000 Zwangsarbeiter:innen aus China, Indonesien und Indien kamen nach ihrer Entlassung aus Betrugszentren in Myanmar bis zur Überstellung in ihre Heimatländer in Lagern in Thailand unter. Das Schicksal befreiter chinesischer Zwangsarbeiter:innen ist unklar. Der staatliche Sender CGTN zeigte im Februar, wie Rückkehrer von der Polizei in Handschellen als «Verdächtige» aus dem Flugzeug geführt wurden. Uno-Menschenrechtskommissar Volker Türk warnt: «Sie sind keine Kriminellen. Sie sind Opfer.»
Der 22-jährige Wang Xing hatte Glück im Unglück: Schon nach drei Tagen kam er auf Druck von Peking wieder frei, nachdem seine Freundin, eine prominente chinesische Schauspielerin, mit dem Hashtag «Wo ist Wang Xing» in den sozialen Netzwerken mobilisiert hatte. So blieben Wang Xing Gewalt, Erniedrigung und Folter in den Betrugszentren erspart.