Ein Traum der Welt: Nach dem Optimismus

Nr. 46 –

Annette Hug vergleicht Grünanlagen

«Wir müssen unseren Garten bestellen», sagt Candide, als er endlich einen ruhigen Fleck Erde gefunden hat. Die Welt rundherum versinkt in Kriegen, Naturkatastrophen, Intoleranz und Versklavung. Was Voltaire im Jahr 1759 am Ende seiner Novelle «Candide oder Die beste aller Welten» empfiehlt, ist heute ein teures technologisches Rezept, aber auch proletarische Selbsthilfe.

Den Technooptimismus kann man am Frankfurter Flughafen bestaunen, wo ich vor einem Monat auf eine Schriftstellerin gewartet habe. Da ist eine ganze Wand von echten Pflanzen bewachsen – und zwar im Innern des Terminals, wo kaum Sonnenlicht hinkommt. Eine kurze Internetsuche bringt zutage, dass es sich dabei um eine «Living Wall» handelt, eine «lebende Wand» also, mit anderen Worten eine «vorgehängte, hinterlüftete Fassadenbegrünung». Die Pionier:innen dieser Art von Innenarchitektur und die Firmen, die sie anbieten, preisen die ausgeklügelten Technikräume, die hinter den bodenlosen, mineralischen Nährflächen dafür sorgen, dass die hängenden Pflanzen geruchlos gedeihen. So sieht die grüne Wende am Flughafen aus.

Die positiven Wirkungen der Vertikalbegrünung möchte ich jedoch an einem anderen Beispiel aufzeigen. Erfunden hats nämlich Emily. Sie wohnt in Antipolo, einer Stadt, die mit Metro Manila zusammengewachsen ist. Wie Zehntausende andere Frauen betreibt sie an einer dicht befahrenen Strasse einen kleinen Laden, wobei dieser Laden eigentlich ein Vorbau des Wohnzimmers ist, in dem die ganze Familie auch schläft.

Statt einer Wand trennt nur ein Gitter diesen Vorbau von der Strasse, und mitten im Gitter hat es ein grösseres Loch, das ist die Durchreiche. Am Gitter hängt Nescafé in kleinen Beutelchen – genau auf die Finanzkraft der ärmsten Bevölkerungsschichten zugeschnitten –, daneben Crackers, gekochte Eier und Instantnudelsuppen. Die Hälfte dieser Wand ist jedoch nicht sichtbar, weil Emily irgendwo ein zweites Gitter rostiger Armierungseisen erstanden hat, das jetzt vor dem ersten steht. An diesem äusseren Gitter hängen Pflanzen so dicht, dass man nicht hindurchsieht. Sie gedeihen in aufgeschnittenen Plastikflaschen und anderen Behelfstöpfen.

Im Juli 2023 habe ich bei Emily jeden Morgen einen Instantkaffee der indonesischen Marke Kopiko getrunken, und sie empfahl mir Ausflüge ins nahe Hinterland. Sowohl sie als auch ihr Mann haben einige Jahre in den Golfstaaten gearbeitet, deshalb besitzen sie jetzt ein Motorrad. Die Kinder sind erwachsen. So gönnen sich die Eltern am Wochenende Ausfahrten zu zweit in die Sierra Madre, geniessen die Aussicht auf den Pazifik, der dahinter zu sehen ist. Emily findet den Fahrtwind draussen auf dem Land wirklich wunderbar.

Ihre Vertikalbegrünung sorgt in Antipolo dafür, dass die Feinstaubbelastung im Wohnzimmer abnimmt, sie beeinflusst das Mikroklima der Verkaufsfläche, wirkt der Bildung städtischer Hitzeinseln entgegen, absorbiert CO₂, schwächt Geruchsimmissionen und setzt einen ästhetischen Akzent am Strassenrand. Emily hat mir die verschiedenen Pflanzen, die da übereinander hängen, einzeln vorgestellt: Ingwer war dabei, eine Ube, deren dunkelviolette Wurzel gut sei gegen hohen Blutdruck und Asthma, sowie verschiedene Farne. Ich hoffe, der Garten hat die jüngsten Stürme überstanden.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin.