Ein Traum der Welt: Geschenkter Garten
Annette Hug lässt Krisen auf sich einwirken
Der Chinagarten am Seeufer der Stadt Zürich wäre ein guter Ort, um in Ruhe über kumulative Krisen nachzudenken, dachte ich am 24. März dieses Jahres. Ein Artikel in der Wochenzeitung «Die Zeit» stimmte auf den Biodiversitätsgipfel ein, der vom 28. April bis am 8. Mai in Kunming stattfinden sollte. Das ist die Partnerstadt von Zürich im bergigen Süden Chinas.
In derselben Ausgabe der «Zeit» wagte der Chefredaktor Bernd Ulrich einen Überblick, der mir etwas Mut machte. Und das, obwohl er schrieb, Krisen kämen nicht mehr einzeln, sie verstärkten sich gegenseitig und würden so bald nicht enden. Das Artensterben sei die stillste unter ihnen, dann zählte er auf: Klimakrise, Pandemie, Krieg, Flucht, Hungersnöte, wieder Flucht.
Interessant waren seine Vorschläge, wie man das gedanklich, moralisch und psychologisch überhaupt zu fassen kriege – er bot einen gedanklichen Rahmen, der mir hilfreich schien, und ich dachte: Der Chinagarten wäre ein geeigneter Ort, um den Artikel in Ruhe nochmals zu lesen, denn jener Garten ist ein Rahmen par excellence. Hinter dem breiten Rasen am See fasst eine rechteckige Mauer einen Teich ein, auch eine Kleinstpagode und überdachte Spazierwege. 1994 hat die Stadt Kunming diesen Garten der «Bevölkerung von Zürich» geschenkt. Die Bäume im Garten spenden inzwischen wunderbar Schatten; während draussen auf dem Rasen eine Gluthitze herrscht, weht drinnen am Teich ein feines Lüftchen, durchs Blätterdach dringt etwas Sonnenlicht, das sich auf dem Wasser spiegelt und auf den Landschaftsmalereien im Pavillon spielt. Ein Mikroklima entsteht hier und macht die Sommerhitze erträglich.
Es ist schon Juli, in der Hektik der letzten Monate ist der Artikel von Ulrich liegen geblieben. Die Konferenz in Kunming hat nicht stattgefunden. Wegen der Pandemiesituation in China wurde sie auf später im Jahr verschoben und findet neu in Kanada statt. Dort soll dann über entscheidende Schritte zum Artenschutz entschieden werden. Und in Italien ist der Po ausgetrocknet. Es wird immer schwieriger, die Aufmerksamkeit für alle gleichzeitigen Krisen aufrechtzuerhalten.
Attraktiv scheint Bernd Ulrichs Idee, von hektischer Flickschusterei abzukommen und sich auf Massnahmen zu konzentrieren, die mehrere Probleme auf einmal lösen. Voll auf erneuerbare Energien setzen ist gut fürs Klima und schafft Unabhängigkeit von Russland und den Golfstaaten. Recht blöd wäre es, den Artenschutz auszusetzen, um Biodiesel zu produzieren. Und plötzlich hätte ich Lust, noch eine Krise hinzuzufügen, um neue Kombinationslösungen zu ermöglichen. Wer die rasant wachsende Zahl von hochbetagten Menschen mit Demenz pflegen und betreuen soll, steht in den Sternen.
Es herrscht eine Care-Krise. Für etwas, das vielen das Wichtigste ist – ihre Kinder –, haben Väter, Mütter, Tanten und Pat:innen zu wenig Zeit. Im Chinagarten meine ich zu erahnen, was Bernd Ulrich meint, wenn er sich vorstellt, dass «aus dem Albdruck der Krisen ein Fest der Synergien» werden könnte. Nichts Klimafreundlicheres, als Zeit zu haben für einen Spaziergang vor dem Pflegeheim – wenn das Pflegeheim im Winter nicht mit Öl geheizt wird und gut erreichbar ist. Wenn der Hang nicht abrutscht im nächsten Unwetter und wenn der Krieg nicht alles kaputtmacht.
Annette Hug ist Autorin, ferienreif, aber nicht in Ferienstimmung.