Licht im Tunnel: Unsterbliche Göttinnen

Nr. 39 –

Michelle Steinbeck hört italienische Ikonen

Letzte Woche feierten gleich zwei berühmte Italienerinnen ihren 90. Geburtstag. Sophia Loren äusserte am Anfang ihrer Karriere den Wunsch, mit neunzig Jahren noch Filme zu machen. Dem ist sie bereits sehr nahe gekommen: 2020 spielte sie die Hauptrolle im Film «Du hast das Leben vor dir» – und wer weiss, was da noch kommt. Von Ornella Vanoni, zwei Tage jünger als Loren, erscheint jedenfalls im Oktober ein neues Album: «Es ist ‹modern›, wie man sagt», verkündigt sie in ihrem Geburtstagsvideo, in dem sie sich überhaupt vergnügt zeigt: «Ich bin nicht traurig, ich fühle mich wie gestern.»

Dass nicht jede italienische Poplegende genügend Aufmerksamkeit bekommt, darauf machte uns unlängst eine WOZ-Leserin aufmerksam. Und schenkte mir eine Entdeckung, die weit über Pop hinausreicht. In dessen Sphären gelangte Giovanna Marini zu ihrem eigenen Erstaunen, als sie, damals 65-jährig, zusammen mit Francesco De Gregori ein Album herausbrachte. «Die Hitparade, wer hätte das gedacht? 2002 war ein Glücksjahr für mich. Ich hatte vierzig Jahre lang Platten gemacht, aber niemand hatte es bemerkt.»

Marini, geboren 1937, war in einer römischen Musiker:innenfamilie aufgewachsen und studierte klassische Gitarre. «Aufgewacht» sei sie Mitte der 1950er, mit Protestmusik. Sie verkehrte in einem politisierten künstlerischen Umfeld, etwa mit Pier Paolo Pasolini und Italo Calvino, und fing an, sich mit der Tradition der Arbeiter:innenlieder auseinanderzusetzen. Sie reiste durch Italien, um Volkslieder in diversen Dialekten zu sammeln, die sie aus dem Gedächtnis aufzeichnen und katalogisieren würde. Als Vorbilder für ihre Arbeit nannte sie Brecht und Weill, und die Bewegung, der sie angehörte, erklärte sie so: «Die Intellektuellen waren das Bindeglied zwischen der Welt der Bauern und jener der Arbeiter. Ein Wunder.»

Ab den 1990ern unterrichtete sie Musikethnologie in Rom und Paris. Auch mit den Studierenden unternahm sie Reisen, um mündlich überlieferte Lieder zu finden und weiteres Wissen über die italienische Arbeiter:innenkultur zu dokumentieren und zu verbreiten. Sie war überzeugt: «Die Geschichte der Leute ist eine ganz andere Geschichte.»

Neben Forschung und Lehre blieb Marini zeitlebens aktive Musikerin und Komponistin, gründete Ensembles und Chöre, schrieb Musiktheater, vertonte etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder Gedichte von Pasolini. Dass ihre Kraft selbst durch körnige Videos und scheppernde Liveaufnahmen dringt, zeigen die zahlreichen Kommentare auf Youtube: «Ich höre es zum tausendsten Mal und kriege immer noch Gänsehaut. Wir haben die Kraft der Solidarität vergessen.» Die Nostalgie der Zeitzeug:innen mischt sich mit jener der neuen Generationen: «Ich bin 18 Jahre alt und habe diese Jahre leider nicht erlebt. Mir kommen die Tränen, wenn ich dieses Lied höre, das von der Einheit der Arbeiterklasse spricht, im Norden und im Süden.» In diese Trauer scheint Marinis Stimme aber auch heute Hoffnung und Mut zu bringen: «Wie meine Eltern und Grosseltern immer erzählt haben: Die Kämpfe, die Demonstrationen. Der Wille zur Veränderung. Wir können es immer noch tun!»

Die Ikone des Arbeiter:innenliedes und Koryphäe der Oral History ist diesen Mai 87-jährig gestorben. Manchmal lernt man Menschen erst nach ihrem Tod kennen. Ich freue mich nun auf die Post, die mir Platten von Giovanna Marini bringt.

Michelle Steinbeck ist Autorin.