Musiktheater: Dirty Dancing in Bochum

Nr. 35 –

Sandra Hüller röhrt die Lieder von PJ Harvey, für Theatermusik gibt es neu ein Plattenlabel, und Faber tauft sein Album im Theater Neumarkt. Hat selbst das mit Taylor Swift zu tun?

Still aus «Sandra Hüller ist PJ Harvey»
So viele Missverständnisse auf der Bühne: Sandra Hüller singt PJ Harvey. Foto: Jan Versweyveld

Die Beziehung zwischen Pop und Theater ist eine On-off-Geschichte. Mal geht es stürmisch zu, dann verliert man sich wieder aus den Augen. Von der Lärmkunst der Einstürzenden Neubauten bei Peter Zadek erhoffte sich das Theater 1987 in Hamburg subkulturellen Glamour. Nachhaltig war das nicht. Später hörte man zu oft die Lieblingsplatten der Regisseur:innen als Einspielmusik. Aber auch so wurden die Körper musikalisiert, das Spiel rhythmischer. Einzelne Theater holten nun die Tonmischpulte in den Saal, die zuvor versteckt waren. Mittlerweile treibt der kaputte Popmarkt viele Musiker:innen auf die Theaterbühnen.

Und dann gibt es gute Ideen, genug Geld und Personal aus der ersten Liga, und es macht Bumm: Sandra Hüller singt PJ Harvey in einer Industriehalle in Bochum. Das muss der Sommerhit des Theaters sein. Oder?

Hüller trägt in der Bochumer Jahrhunderthalle eine blonde Langhaarperücke, mit der sie aussieht wie Juliette Lewis in Oliver Stones Film «Natural Born Killers» (1994). Lewis und Woody Harrelson geben darin ein verzweifelt brutales Update des Gangsterpärchens. Mit vergleichbarem Flair für die grossen Gefühle auf der dunklen Seite des Lebens tritt zur gleichen Zeit eine britische Musikerin auf den Plan: PJ Harvey. Die Bässe schleppen schwer, ab 1995 singt Harvey ihren weissen Blues mit Elektronik, es geht immer um Liebe, Schmerz, sogar um Totschlag, wenn eine Mutter in «Down by the Water» ihre Tochter ertränkt. Sie schreit selten, Harveys Horror kommt mal im Flüsterton, mal im wackeligen Alt oder in ihrem schönen, fast dünnen Falsett, der Kopfstimme. Und Hüller spielt jetzt Harvey, zumindest singt sie 26 ihrer Lieder zum Auftakt der Ruhrtriennale.

Hochglanz, aber ein bisschen dirty

Wow, ein Power Couple. Denn PJ Harvey ist eine der interessantesten Popkünstlerinnen der letzten dreissig Jahre. Auch weil sie sich wandelte und den nachtschattigen Teint später selbst im Licht tagespolitischer Themen nicht verlor (Songs über Guantánamo, Afghanistan und immer wieder über England). Und Sandra Hüller ist eine der interessantesten Schauspielerinnen der Gegenwart, steckt nun aber in dieser Perücke, umrankt von Tänzer:innen aus Marseille, die so gut wie jedes Bild, das die Songtexte hergeben, unablässig vertanzen. «I Want Absolute Beauty», in der Regie des Festivalleiters Ivo van Hove, zitiert nur Grosskunst. Dass auf der Bühne ganz viel Erde liegt, in der sich alle wälzen werden: ein historisches Zitat der Tanzlegende Pina Bausch, aber eben auch der Versuch der Hochglanzproduktion, etwas dirty zu sein.

Wer mit einer Popsensibilität reingeht und weniger mit einer Theatergefühligkeit, braucht viel Verständnis. Trotz hohem Ausbaustandard und einer unfassbaren Gesangsleistung von Hüller gibt es gleich mehrere Missverständnisse in diesem Transfer von Pop zur Bühne.

Das erste Missverständnis: gut singen. Zwar sagt PJ Harvey im Programmflyer mit Recht, dass es für so eine Produktion wichtig sei, keine ausgebildete Stimme zu haben. Pop trat an als die Kunst der schwachen Stimmen, dank der Verstärkung durch das Mikrofon. Aber der Programmtext probiert damit einen Abwehrzauber. Denn tatsächlich singt Hüller zu gut. Wenn sie nicht in die Kopfstimme steigt, erinnert sie an Rockröhren wie Joan Jett oder Gianna Nannini, wenn die PJ Harvey singen würden. Verrückt genug, dass Hüller das kann. Aber eher rührend, dass die sonst so Kontrollierte sich derart gehen lässt. Warum? Vermutung: Hüller steht schon lange auf Harveys Musik, zumindest sagte sie das vor zwanzig Jahren bei einem Treffen für ein Porträt. Sie erfüllt sich damit einen Jugendtraum und verausgabt sich ungeschützt. Von ihrer Kunst bleibt nicht viel übrig.

Das zweite Missverständnis: Pop, das sei Kurzstrecke, Stichwort Videoclip. So hat Ivo van Hove 26 Songs in 90 Minuten gequetscht und sich nur für wenige etwas Zeit genommen. Das Resultat ist ein raunendes Medley. Ausgerechnet im Theater, der Kunst der Zeit im Raum, können die Songs nicht atmen. Weil immer gleich der nächste kommen muss. Drittes Missverständnis: Pop hat immer eine Botschaft. Wie die französischen Choreograf:innen von La Horde ihre Tänzer:innen in diesen jeweils zwei bis drei Minuten zur banalen Illustration von Krieg, Mord, Prostitution, Lust anleiten, sagt mehr über ihre Vorstellung von Pop aus als über ihre Kunstfertigkeit.

Im Bühnenvideo sehen wir Samen, wenn die vierköpfige Band «Grow, Grow, Grow» spielt, allmählich werden Bäume draus. Wenn Hüller nur kurz «White Chalk» singt, sehen wir die Kreidefelsen von Dorset, Harveys Heimat. Am Ende singt sogar Isabelle Huppert auf Video etwas a cappella, um nach dem vielen nach aussen gestülpten Schmerz von der Heilung zu singen: Eines Tages werden wir schweben und das Leben nehmen, wie es kommt (aus dem Song «We Float»). Lauter kann die Kitschglocke nicht läuten.

Es wird noch viel zu besprechen geben, denn es sieht ganz danach aus, dass die Liaison zwischen Pop und Theater weiterhin Konjunktur haben wird. Theatermusik wird komplexer, oft liefern die Musiker:innen keine Konserven ab, sondern stehen selbst auf der Bühne (etwa in den Inszenierungen von Nicolas Stemann). Mit Naked Records von PC Nackt, der für Nena oder Apparat komponiert hat, gibt es neuerdings ein Label nur für Theatermusik. Die Musikerin Masha Qrella entwickelt neben ihren Alben eine Theatermusik nach der andern und steht dabei immer live mit auf der Bühne.

Safe Space für Pop

Im Zürcher Theater Neumarkt hat das Leitungstrio Julia Reichert, Tine Milz und Hayat Erdoğan, das nun in seine letzte Saison geht, Musik oft zentral eingebunden. Die Sängerin Brandy Butler ins Ensemble zu holen, war nur einer von vielen Schritten zu einem musikalisierten Theater. Ein anderer: Die Pop-Oper mit dem Kalauernamen «Porno mit Adorno» (2022), für die der Sänger Faber die Musik machte, die er dann auch als Album herausbrachte («Nachrichten über das beschädigte Leben»). Sein neues Album «Addio», im Juni erschienen, stellt Faber gleich an zwei Abenden im Theater Neumarkt vor.

Das ist alles gut für die Kunst, aber man sollte nicht vergessen, warum so viele Musiker:innen ins Theater drängen. In diesem Sommer bestand die internationale Popberichterstattung aus zwei Themen: Taylor Swift – erst mit dem Album, dann mit der Tour – und Adele in München, wo sie eine Konzertserie wie in Las Vegas spielt, in einem eigens gebauten Stadion. Die durch digitale Aufmerksamkeitslenkung erfolgte Konzentration an der Spitze hat eine lächerliche, für die meisten unterhalb dieser Spitze tragische Dimension angenommen. Festivals straucheln, Tourneen werden verschoben oder abgesagt, und Streaming führt zu weniger Einnahmen denn je.

Der Popkapitalismus ist kaputt – und alle grossen Medien stellen das xte Dossier zu Swift und Adele zusammen und feuern aus allen Rohren. Die Bude brennt, und wir reden im Pop nur noch über Milliardärinnen, die astronomisch teure Tickets verkaufen. Gut für das Theater, weil es zunehmend flüchtige Musiker:innen aufnehmen kann. Dass es dabei, wie bei jeder Migration, zu kulturellen Übersetzungsproblemen kommt wie in Bochum mit Hüller und Harvey, ist ganz normal.

www.ruhrtriennale.de

«Addio – oder die unumgängliche Tragödie der Arroganz» von und mit Faber in: Zürich, Theater Neumarkt, Mi/Do, 4./5. September 2024, 20 Uhr.