Film: Die schönsten Steine

Anu und Prabha wohnen zusammen in einer engen Wohnung in Mumbai, wo beide in einem Spital als Krankenschwestern arbeiten. Die jüngere, aufgeschlossene Anu (Divya Prabha) führt eine heimliche Beziehung mit einem jungen Muslim, während Prabha (Kani Kusruti) von ihrem Mann kurz nach der arrangierten Heirat für einen Job in Deutschland zurückgelassen wurde. Zu ihnen gesellt sich in Payal Kapadias poetisch-realistischem, melancholisch-optimistischem Grossstadtfilm «All We Imagine as Light» die Krankenhausköchin Parvaty (Chhaya Kadam). Mangels Dokumentation kann diese nicht beweisen, dass das Land, auf dem ihre Wohnung steht, ihr gehört. Als Parvaty sich deshalb entscheidet, in ihr Küstendorf südlich von Mumbai zurückzukehren, helfen ihr Anu und Prabha beim Umzug.
Aussagen, Stimmungen, Objekte oder Träume: Nichts davon existiert ausserhalb eines bestimmten Kontexts. Der Satz «Klasse ist ein den Privilegierten vorbehaltenes Privileg» kann eine bittere Beschreibung sozialer Ungerechtigkeit sein, aber auch ein Werbeslogan für das Bauprojekt, das Parvaty aus ihrer Wohnung verdrängt. (Eindeutig sind hingegen die Steine, die auf das Werbeplakat geschleudert werden.) Ein Reiskocher ist kein banales Küchengerät mehr, wenn er, «made in Germany», in einem Paket ohne Absender in Prabhas Wohnung auftaucht. Und auch eine Burka ist mehr als eine Burka, wenn sich Anu dank ihr anonym mit dem Geliebten treffen kann.
Die betörend melancholische Musik und die träumerisch funkelnden Nachtbilder Mumbais lassen die erste Filmhälfte trotz aller Entfremdung als wunderschöne Stadtsinfonie erscheinen (und die zweite als nur knapp unwahrscheinliche Utopie). Zu Beginn des Films weist eine Texttafel darauf hin, dass die Nachlassverwalter der äthiopischen Komponistin Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou unter Berücksichtigung der Botschaft des Films den Einsatz ihrer Musik erlaubten, obschon nicht alles daran mit Emahoys Werten als Nonne übereinstimme. Manche Dinge, wie Schönheit oder Trost, stehen für sich.