Content-Moderation in Kenia: Ausgelagert nach «Silicon Savannah»

Nr. 35 –

In Nairobi filtern Tausende schlecht bezahlte Arbeiter:innen für globale Plattformen verstörende Inhalte heraus – unter extremen Bedingungen. Nun setzen sie sich zur Wehr.

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Grossraumbüros, grelle Neonlichter, Kopfhörer, Monitore. Tausendfach flimmern in schneller Abfolge Gewaltvideos, Werbung und niedliche Tiervideos über die Bildschirme. So sieht der Alltag vieler Content-Moderator:innen in Kenia aus, die in Subunternehmen für Plattformen wie Tiktok, Facebook oder Instagram unangemessene Inhalte identifizieren – und so Nutzer:innen der sozialen Medien vor den schlimmsten Bildern schützen.

Die Arbeit der Moderator:innen ist extrem belastend. «Wir mussten oft auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig Videos in doppelter oder dreifacher Geschwindigkeit ansehen», schrieb Sonia Kgomo, eine ehemalige Content-Moderatorin, im Februar in einem Gastbeitrag für den «Guardian». Die gebürtige Südafrikanerin und ihre Kolleg:innen kontrollierten in Kenia Inhalte für den Facebook-Konzern Meta. Viele Beschäftigte in der Branche leiden unter Schlafstörungen oder Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das zeigt auch eine Befragung der internationalen Gewerkschaft UNI Global Union von mehr als 200 Moderator:innen aus Ländern wie den Philippinen, der Türkei, Mexiko und Kenia. «Die Arbeit ist deprimierend, und man hat keine Zeit für soziale Kontakte. Der Verdienst ist gering», berichtet darin etwa ein Content-Moderator aus Nairobi.

Mit einem Monatslohn von 40 000 Kenia-Schilling (KES), umgerechnet rund 250 Franken, verdienen die Moderator:innen zwar mehr als den Mindestlohn von durchschnittlich 15 000 KES. Doch in Grossstädten wie Nairobi reicht das Geld kaum. Nach Abzug von Miete, Lebensmitteln und Transportkosten bleiben laut Berechnungen von Gewerkschaften nur etwa 5000 KES, also gut 30 Franken, für Strom, Wasser, medizinische Versorgung, Bildung und andere Ausgaben. «Die Arbeit ist anspruchsvoll, die Regeln ändern sich ständig, und Fehler gefährden die Ziele, von denen ein grosser Teil des Gehalts abhängt», erklärt Benjamin Parton, Leiter der IT-Sparte bei UNI Global Union. Oft werden die Beschäftigten pro bearbeiteten Clip bezahlt, nicht pro Stunde.

Staatlich geförderter Techboom

In Kenia übernehmen sogenannte «Business Process Outsourcing»-Unternehmen (BPOs) Geschäftsprozesse für Konzerne wie Meta oder Bytedance (Tiktok). Laut Schätzungen arbeiten Tausende von Menschen in Kenia in der Branche – nicht nur in der Content-Moderation, wo vor allem Inhalte aus Subsahara-Afrika gesichtet werden. Denn das Land hat sich in den letzten Jahren zu einem digitalen Knotenpunkt in der Region entwickelt. Konkrete Zahlen gibt es aufgrund der intransparenten Geschäftspraktiken der Subunternehmen nicht. Zu den in Kenia tätigen BPOs gehören europäische Unternehmen wie Majorel mit Sitz in Luxemburg.

«Die Unternehmen profitieren von einem globalen System, das auf Gewinnmaximierung durch Lohnunterschiede und schwache Arbeitsschutzmassnahmen im Globalen Süden setzt», kritisiert Joanita Najjuko. Die Uganderin ist Expertin für digitale Wirtschaft und Mitglied des panafrikanischen Kollektivs Nawi Afrifem, das die wirtschaftlichen Bedingungen der Frauen auf dem Kontinent verbessern will. «Das vertieft die globale Kluft und reproduziert koloniale Ausbeutungsmuster, die nun digitalisiert werden», unterstreicht sie.

Die Subunternehmen sind Teil eines Techbooms in «Silicon Savannah», der durch staatliche Förderungen angetrieben wird. Ursprünglich bezeichnete der Begriff einen Technologie-Hub im Süden Nairobis, heute steht er für Kenias Wandel zu einer innovationsgetriebenen Wissenswirtschaft. Laut der Marktanalysefirma Business Monitor International wuchs der IT-Sektor des ostafrikanischen Landes in den letzten zehn Jahren jährlich um durchschnittlich 10,8 Prozent. In diesem Jahr soll die digitale Wirtschaft 9,24 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachen.

Auch in den kommenden Jahren plant die Regierung, riesige Summen in die digitale Infrastruktur und die Ausbildung junger Menschen zu investieren. Präsident William Ruto will Kenia zu einem führenden Technologiezentrum Afrikas machen. Mit Steueranreizen sollen weitere Techunternehmen angelockt werden. Als besonders umstritten gilt ein im April beschlossenes Finanzgesetz. Es sieht vor, dass der Gewinnsteuersatz teils um die Hälfte auf fünfzehn Prozent gesenkt wird.

Doch die Wachstumsprognosen sind aktuell moderat und die Staatsschulden hoch. Um die in den vergangenen zehn Jahren angehäuften Kredite etwa gegenüber China bedienen zu können, muss der Staat seine Einnahmen erhöhen. Ein Vorhaben aus dem Vorjahr, das eine Steuererhöhung für Grundnahrungsmittel vorsah, hat die Regierung nach Protesten, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen, wieder zurückgezogen. Im Juni kam es aufgrund stagnierender Reallöhne und hoher Lebenshaltungskosten zu grossen Demonstrationen in Nairobi.

Auch das Arbeitsrecht hält mit den Veränderungen durch die Digitalisierung nicht Schritt. Die Verfassung garantiert zwar Menschenrechte, das Streikrecht, Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen. Doch die Arbeitsgesetze von 2007 passten nicht mehr zur digitalen Wirtschaft, kritisiert eine Anwältin aus Nairobi, die anonym bleiben will. Sie kämpft seit Jahren für bessere Rechte von Plattformarbeiter:innen. Viele Subunternehmen setzten auf Scheinselbstständigkeit, wodurch die Beschäftigten etwa keinen Kündigungsschutz erhielten, sagt sie. Zudem wurden die Arbeitsschutzbestimmungen mit Blick auf traditionelle Berufe entwickelt, die grosse psychische Belastung beim Content-Monitoring etwa wird da noch nicht berücksichtigt.

Das zeigt auch eine Klage von Content-Moderator:innen gegen Meta. Sie werfen dem Techgiganten und dem Subunternehmen Majorel vor, ihr Recht auf Würde und Gesundheit verletzt zu haben. Ein Arbeitsgericht liess die Klage vergangenes Jahr zu – ein Durchbruch, wie Gewerkschaften betonen, weil erstmals ein multinationaler Konzern mit Sitz im Ausland für die Arbeitsbedingungen eines Auftragnehmers haftbar gemacht wurde. «Aber die Regierung ist nun dabei, die Gesetze zugunsten der Unternehmen zu ändern», erklärt Parton von der Gewerkschaft UNI. Auf eine Anfrage reagierten Meta und Majorel nicht.

Neue Allianzen

In Nairobi wurde dieses Jahr eine neue Gewerkschaftsallianz gegründet. Gemeinsam kämpfen in dieser nicht nur in Kenia und Südafrika Content-Moderator:innen für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch auf den Philippinen, in Mexiko, der Türkei und Irland. Das Bündnis veröffentlichte als ersten Schritt einen Massnahmenkatalog zum Schutz der Beschäftigten. Gefordert werden realistische Leistungsquoten, eine unabhängige psychologische Betreuung, das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und Grenzwerte für den Umgang mit belastenden Inhalten. «Technologieunternehmen müssen Verantwortung übernehmen und die Moderation sicher gestalten», unterstreicht der Gewerkschafter Parton.

Plattformexpertin Najjuko verlangt zudem eine verbindliche Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für digitale Plattformarbeit. «Und wir brauchen Gesetze, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sicherstellen, dass grosse Technologieunternehmen Arbeitsstandards entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette einhalten», betont sie. Hier sieht sie Länder des Globalen Nordens in der Pflicht, weil nicht nur Techkonzerne wie Bytedance und Meta sowie deren Nutzer:innen, sondern auch dort angesiedelte Subunternehmen von der Auslagerung der Content-Moderation profitieren.