Service public: Angestellte sollen Rabatte für Reiche finanzieren

Nr. 50 –

Seit Wochen protestieren in der Waadt Tausende Staatsangestellte gegen Sparpläne der Regierung. Vor dem Entscheid des Parlaments wollen sie den Druck erhöhen.

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Demonstration vor dem Parlament in Lausanne am Mittwoch, 3. Dezember
Es brodelt in den Gassen: Demonstration vor dem Parlament in Lausanne am Mittwoch, 3. Dezember. Foto: Jean-Christophe Bott, Keystone

Queens Klassiker «We Will Rock You» erklingt an diesem Vormittag mit neuen Parolen. «Nous sommes, nous sommes fachées – fachées!» – «Wir sind verärgert», singen zwei Dutzend Frauen, die sich am 4. Dezember im Zentrum von Lausanne an der Place de la Palud versammelt haben. Vanessa Monney stimmt in den Gesang ein, bricht aber bald wieder ab. «Meine Stimme macht nicht mehr mit», sagt die 38-Jährige. Stundenlang war sie bereits am Vortag am Mikrofon. So wie auch schon am Tag davor.

Monney, rote Lippen, lange dunkle Haare, schwarzer Mantel, roter Schal, ist Gewerkschaftssekretärin des VPOD im Kanton Waadt, der gerade turbulente Zeiten erlebt. Ende September hat die Regierung umfassende Sparmassnahmen angekündigt. Diese sollen das geplante Staatsdefizit für 2026 abfedern und gewährleisten, dass die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse eingehalten wird. 305 Millionen Franken will die Regierung 2026 einsparen, wodurch sich das Defizit noch auf 331 Millionen belaufen soll. Ob Gesundheitsversorgung, Bildung, Sozialarbeit, Kinderbetreuung, öffentlicher Verkehr oder Asylwesen – so gut wie alle Bereiche des Service public sind betroffen. Zudem sollen Staatsangestellte, mit Ausnahme der niedrigsten Gehaltsklassen, 2026 Lohnkürzungen hinnehmen. Die Regierung spricht von einem «Krisenbeitrag» von 0,7 Prozent der Bruttolöhne.

«Alle sind wütend»

Bei den Betroffenen löst das Vorhaben grossen Ärger aus – und Widerstand, wie ihn selbst die eher streikfreudige Romandie noch selten erlebt hat. Nachdem am 2. Oktober laut Gewerkschaften rund 15 000 Menschen dem Aufruf zu einer Grosskundgebung in Lausanne gefolgt waren, gingen am 18. und am 26. November rund 25 000 respektive 28 000 Personen gegen die Sparpläne auf die Strasse. Vielerorts legten Staatsangestellte ihre Arbeit nieder. «Alle sind wütend», sagt Vanessa Monney. «Eine solche Mobilisierung habe ich noch nie gesehen.» Bemerkenswert sei auch, wie sehr die breite Bevölkerung die Bewegung unterstütze, sowie die Tatsache, dass sich Sektoren dem Streik angeschlossen hätten, in denen für gewöhnlich kaum Protest artikuliert werde.

Damit meint Monney auch jene Frauen, die sich an diesem Morgen an der Place de la Palud versammelt haben. Sie arbeiten als Tageseltern in der Kleinkindbetreuung – einem Sektor, der nächstes Jahr und eventuell auch 2027 zehn Millionen Franken an Subventionen verlieren soll. Zwar will die Fondation pour l’accueil de jour des enfants (FAJE), eine Stiftung, über die die Finanzierung der Betreuungsstrukturen läuft, den Verlust fürs kommende Jahr ausgleichen. Allerdings, so Monney, dürfte die Massnahme die Schaffung dringend benötigter zusätzlicher Betreuungsplätze im Kanton verzögern. Auch würden nun wohl die geplanten Verhandlungen über bessere Arbeitsbedingungen und eine Lohnerhöhung blockiert. «Aktuell erhalten wir 6,35 Franken pro Kind und Stunde», sagt eine der Frauen, die protestieren. Auf eine schnelle Verbesserung könne sie nun kaum hoffen.

Anders als an den Vortagen findet am 4. Dezember keine Grosskundgebung statt. Stattdessen wird in zahlreichen Einrichtungen gestreikt. So auch im Waadtländer Kantonsspital (CHUV). Vor der Cafeteria hat das Personal einen kleinen Stand aufgebaut, ein paar Leute verteilen Panettone, Biscuits und Flyer. Im Spital einen Streik zu organisieren, sei nicht einfach, aber machbar, sagt eine Physiotherapeutin, die anonym bleiben will. «Wo es möglich ist, werden Behandlungen verschoben.» Viele Patient:innen zeigten Verständnis: «Sie erkennen, wie wichtig das hier für die Zukunft der Patientenversorgung ist», sagt sie.

Demonstration vor dem Parlament in Lausanne am 3. Dezember
«Zum Kotzen»: Demonstration vor dem Parlament in Lausanne am 3. Dezember. Foto: Jean-Christophe Bott, Keystone

24 Millionen Franken sollen 2026 am CHUV eingespart werden. Bei einem Budget von rund 2 Milliarden möge das verkraftbar wirken, sagt der zuständige Gewerkschaftssekretär David Gygax. «Doch das ist schon das vierte Einsparungsjahr in Folge, in einem bereits unterfinanzierten Sektor.» Während die kantonale Gesundheitsdirektion beteuert, die Massnahmen würden keine Auswirkungen auf die Belegschaft haben, mache sich die steigende Arbeitslast durch Personalmangel, nicht ersetzte Abwesenheiten und Krankheitsausfälle schon länger bemerkbar.

«Oft können wir all unsere Aufgaben schon jetzt kaum stemmen», sagt die Physiotherapeutin. Besonders ärgere sie die fehlende Gesprächsbereitschaft des Regierungsrats. Während dieser auf zwei Treffen kurz vor der Präsentation des Budgets verweist, beklagen die Gewerkschaften, dass die Regierung ihren Forderungen nach Verhandlungen in keiner Weise nachkomme – und nun die Verantwortung an das Parlament abschiebe. Im Grossen Rat liegt das Budget seit Anfang Dezember zur Abstimmung vor, weshalb sich die Kundgebungen auch vor dessen Sitz verlagert haben.

Illegal zu wenig besteuert

Gross ist die Wut in der Waadt aus einem weiteren Grund: Kürzlich ist bekannt geworden, dass mehrere Tausend vermögende Haushalte jahrelang zu wenig Steuern bezahlt hatten. Ein externer Untersuchungsbericht kam im August zu Schluss, dass der Kanton den dort geltenden «bouclier fiscal», einen Steuerrabatt für Reiche, zwischen 2009 und 2021 bewusst nicht gesetzeskonform umsetzte – und das, obwohl Mitarbeitende der kantonalen Steuerverwaltung das Problem bereits 2011 ihren Vorgesetzten gemeldet hatten. Während die Regierung die Summe, die dem Kanton durch die illegale Praxis entgangen ist, als zu schwer zu errechnen bezeichnet, kam die Zeitung «Le Temps» im November auf rund eine halbe Milliarde Franken.

Über die Entrüstung der Bevölkerung dürfe man sich da nicht wundern, sagt Hadrien Buclin von der Linkspartei Ensemble à gauche, der im Kantonsparlament in der Finanzkommission sitzt. Er weist auch auf Steuersenkungen in den letzten Jahren hin, darunter jene der Unternehmenssteuern 2019. «Die Waadt ist schon lange sehr aktiv, wenn es darum geht, im Steuerwettbewerb grosse Vermögen anzuziehen.» Diese Politik sieht er, neben ausbleibenden Gewinnausschüttungen der Nationalbank, als Hauptgrund dafür, dass der Kanton nach Jahren des Überschusses seit 2023 rote Zahlen schreibt. Zudem macht Buclin auf die grossen Reserven der Waadt aufmerksam: je nach Rechnung zwischen zwei und vier Milliarden Franken. Würde die Regierung verstärkt auf diese zurückgreifen, so seine Ansicht, liessen sich die aktuellen Sparmassnahmen vermeiden.

Singend durch Vevey

Am Nachmittag hat sich Vanessa Monney mit acht weiteren Frauen am Bahnhof von Vevey versammelt. Die Anwesenden arbeiten als Betreuerinnen oder in der Leitung von Kindertagesstätten und haben Banner und Plakate dabei mit Aufschriften wie «Keine Sparmassnahmen bei den Kindern». Sie befürchte, dass es ab 2027 zu Kürzungen bei der Fortbildung oder der Unterstützung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen kommen könnte, sagt die 27-jährige Karine Gindrat. Auch Auswirkungen auf die Gehälter schliesst sie nicht aus. «Wer wird da diesen Job noch machen wollen?», fragt sie.

Singend zieht die Gruppe durch die Strassen, läutet bei Kitas und Einrichtungen zur Nachmittagsbetreuung von Schulkindern, verteilt Badges und ruft zum Protest auf. Gegen 17 Uhr finden sich die Frauen zu einer Kundgebung am Rathausplatz von Vevey ein. Etwa fünfzig Personen haben sich dort versammelt. Die Stimmung ist gut, doch zugleich wird die Dringlichkeit der Anliegen spürbar. «Die Regierung geht auf jene Leute los, die die Gesellschaft zusammenhalten», sagt eine Frau um die fünfzig, dunkle Haare, bordeauxfarbene Daunenjacke. Sie unterrichtet an einem Gymnasium in der Region. «Unter den Beamt:innen zählen wir zu den Besserverdienenden», sagt eine Kollegin, «daher heisst es oft, dass Lohnkürzungen für uns nicht so schmerzhaft seien. Dabei streiken wir auch für den Service public als Ganzes», sagt sie. «Es geht darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.»

Am selben Abend beschliessen die Gewerkschaften bei einer Versammlung die Fortsetzung des Protests. Dort, wo es möglich ist, soll die Arbeit fortan jeden Tag niedergelegt werden. Am 9. Dezember gehen erneut mehr als 20 000 Menschen auf die Strasse. Bis 17. Dezember soll das kantonale Parlament über das Budget entscheiden. So lange geben die Gewerkschaften alles, um den Druck zu erhöhen.

Libertäre Wende: Der Kanton St. Gallen schafft sich selbst ab

Ausgerechnet FDP-Finanzvorsteher Marc Mächler wandte sich am Ende mit einem letzten, vergeblichen Aufruf zur Mässigung ans Parlament: «Sie wollen Blut sehen», sagte er. «Dieses Paket wird wehtun.» Mächlers Votum – es war das einigermassen groteske Ende einer Spardebatte, die in der Wintersession des St. Galler Kantonsrats völlig entgleist ist.

Die Sparpläne der Regierung hatten in St. Gallen lange vor der Wintersession für Aufsehen und Proteste gesorgt. Im Haushalt klafft ein Loch. Dies, weil das rechtsbürgerlich dominierte Kantonsparlament trotz Standortnachteilen beim nationalen Steuerwettbewerb mitmischen wollte und sowohl 2021 als auch 2022 eine Senkung des Steuerfusses um jeweils fünf Prozentpunkte beschloss. Dies sei «nachhaltig» möglich, versprach die rechte Ratsmehrheit damals, doch seit 2023 ist der Haushalt defizitär.

180 Millionen Franken wollten Regierung und Finanzkommission deswegen ursprünglich einsparen – ein Sparpaket, das bereits empfindliche Einschnitte zur Folge gehabt hätte: beim Staatspersonal, in der Bildung, im Pflegebereich, in der Kultur. Doch in der vergangene Woche zu Ende gegangenen Wintersession des Kantonsrats erbrachte die rechte Mehrheit aus FDP, SVP und Mitte den Beweis, dass Steuersenkungen und radikale Staatsabbaugelüste ideologisch Hand in Hand gehen. Denn: Die Mehrheit des Parlaments sprach sich entgegen dem Willen der Regierung nicht nur für ein weiteres Sparpaket im Umfang von 60 Millionen und eine Plafonierung des Personalaufwands aus. Darüber hinaus fordert sie, dass der Kanton St. Gallen zu einem Minimalstaat wird – wie ihn die Trumps und Mileis dieser Welt propagieren.

Konkret beauftragte der Kantonsrat die Regierung, «auf Tätigkeiten und Ausgaben, die über das gesetzliche Minimum des übergeordneten Rechts hinausgehen», zu verzichten. Nach dem Willen des Kantonsrats soll sich St. Gallen also auf das absolut Notwendigste beschränken und nur noch finanzieren, was durch die Verfassung und durch Bundesgesetze vorgeschrieben ist, etwa in der Bildung, bei der Polizei oder in der Sozialhilfe. Alles, was darüber hinausgeht, jede freiwillige Leistung des Kantons, etwa in der Kulturförderung oder für Umweltprojekte, soll eingestellt werden. Würde dies so umgesetzt, hätte der Kanton keinerlei Gestaltungsspielraum mehr; er schaffte sich im Grunde selber ab.

Noch ist unklar, wie weit die libertäre Wende in der Ostschweiz tatsächlich gehen wird. Die Regierung, die sich im Parlament vergebens dagegen wehrte, muss nun unter der genannten Prämisse einen Aufgaben- und Verzichtsplan erarbeiten und dem Parlament innerhalb der nächsten drei Jahre vorlegen.