Psychiatrie: Zu oft wird Zwang gebraucht

Nr. 14 –

Manchmal geraten Menschen ausser sich. Sie hören Stimmen, fühlen sich verfolgt oder wollen sich das Leben nehmen. Wenn es total überbordet, kommen sie in die Psychiatrie. Dort erhalten sie eine Diagnose, die passenden Medikamente und kehren ruhig in den Alltag zurück.

Schön wäre es. Doch vor allem, wenn jemand nicht freiwillig in die Klinik geht, läuft es meist nicht so reibungslos ab, und es kommt zu einer sogenannten fürsorgerischen Unterbringung (FU). Das klingt behutsamer, als es ist. Vor einigen Jahren nannte man es noch «fürsorgerische Freiheitsentziehung», was ehrlicher war. Freiheitsentzug ist die härteste Sanktion, die unser Rechtssystem für DelinquentInnen kennt.

Die Psychiatrie soll aber nicht strafen, sondern heilen. Deshalb ist die FU auch im Zivilgesetzbuch (ZGB) geregelt und nicht im Strafgesetzbuch. Falls die fürsorgerisch untergebrachte Person keine Medikamente schlucken will, gerät das Heilen aber leicht zur Disziplinierung. PatientInnen werden manchmal von mehreren PflegerInnen auf ein Bett geschnallt, damit man ihnen das Medikament spritzen kann. Details will man sich nicht vorstellen. Es ist unschön – wird aber meistens hingenommen, weil weder die Angehörigen noch die Institutionen noch sonst wer Raum und Musse haben, sich anders um diese Menschen im Ausnahmezustand zu kümmern.

Auffallend ist allerdings, dass in der Schweiz immer mehr Menschen zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert werden – das zeigen neuste Zahlen, die die WOZ beim Bundesamt für Statistik besorgt hat: 2011 waren es 7700 Fälle, 2016 schon fast 15 000. Das sind über vierzig Personen täglich. Die FU ist zwar im ZGB geregelt. Aber die Kantone müssen sich um die Umsetzung kümmern. Deshalb ist es schwierig, sich ein klares Bild zu verschaffen. Marc Stutz, Pressesprecher der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), konstatiert, in der Schweiz würden wahrscheinlich zu wenige FUs statistisch erfasst. «Dies hat mit der unterschiedlichen Rechtslage der einzelnen Kantone zu tun, das heisst, es handelt sich um eine politische Frage: Wer darf zuweisen? Wie lautet die genaue rechtliche Definition einer FU?»

Im Kanton Zürich werden zum Beispiel 40 Prozent der FU-Fälle von PsychiaterInnen angeordnet, 22 Prozent von NotärztInnen, 23 Prozent von SpitalärztInnen und 11 Prozent von HausärztInnen. Faktisch dürfen in Zürich alle ÄrztInnen eine FU veranlassen. In der Stadt Basel ist das anders. Da dürfen nur ÄrztInnen des speziellen Fachteams Sozialmedizin sowie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Personen zwangseinweisen. Das schlägt sich in den Zahlen nieder: Die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel nehmen jährlich 200 FU-Fälle auf, das sind rund zehn Prozent aller stationären Fälle. Die PUK Zürich verzeichnet demgegenüber jährlich 1500 FU-Eintritte, das sind fast dreissig Prozent aller stationären Fälle.

Zwang ist für den Heilungsprozess nicht gerade förderlich und wirkt zum Teil sehr traumatisierend, wie eine Betroffene in dieser WOZ ausführlich schildert. In jeder anderen Situation, in der einer Person ohne Urteil die Freiheit entzogen wird – weil sie zum Beispiel in Untersuchungshaft kommt –, hat sie Anspruch auf einen Rechtsbeistand. Nicht so bei der FU. Das Gesetz sieht zwar vor, dass die Betroffenen eine Vertrauensperson benennen können, die ihre Rechte vertritt. Doch wenn Betroffene niemanden mehr haben, der ihnen beisteht, nützt das wenig.

Es liesse sich anders regeln: Der Kanton Tessin sorgt per Gesetz dafür, dass alle Zwangseingewiesenen eine Vertrauensperson zugewiesen bekommen. Diese besucht die FU-Leute in der Klinik, informiert sie über ihre Rechte und steht ihnen bei juristischen Fragen bei. Konkret übernimmt Pro Mente Sana diese Aufgabe, der Kanton zahlt die Kosten.

Pro Mente Sana würde gerne in der ganzen Schweiz ein Netz von solchen Vertrauenspersonen aufbauen. Doch fehlt dafür zurzeit das Geld. Das fürsorgerische Wegsperren ist also gesetzlich ordentlich geregelt, nicht aber die Finanzierung des rechtlichen Beistands. Das ist dumm, denn eine gute Begleitung brächte viel. Es würde für alle Beteiligten weniger belastend – und billiger würde es vermutlich auch.