Sand: Der langsame Abschied vom Strand

Nr. 38 –

An den Küsten dieser Welt bilden Bauboom, Tourismus und Klimawandel eine zerstörerische Allianz, die den Sand zum Verschwinden bringt. Recherchen zu einem gefährdeten Kulturgut.

Der Sandstrand ist der Übergangsraum zwischen Festland und Meer, der Ausgangspunkt zur Horizonterweiterung. An diesem Ort legte der moderne europäische Mensch im 18. Jahrhundert seine religiöse Idee des Meeres als furchteinflössende, bloss vorübergehend gebändigte Sintflut ab und begab sich an die Gestade, um im Wasser Linderung von Schmerzen und im Sand nach marinen Geschenken wie Muscheln zu suchen. Auf diesem Streifen entdeckte die Wissenschaft das Hobby, die Belle Époque neue Rollenmodelle und die Tourismusbranche den Nichtreisenden. In dieser Kulisse erschoss der Protagonist aus Albert Camus’ «L’Étranger» unmotiviert einen Menschen, um uns in der Oberstufe die Absurdität des Lebens zu lehren. Hier sehen wir «Monsieur Hulot» zu, wie er mit wippend-staksigem Gang die gutbürgerliche Sommerfrische aufmischt. Genau da legte das Boot im Schlussbild von «Some Like It Hot» ab, um uns daran zu erinnern, dass die Liebe nun mal hinfällt, wo sie hinfällt.

Der Strand ist Vorraum von ausschweifenden Gedankengebäuden über die eigene Bedeutungslosigkeit, Bühne für Romane und Filme, Probeatelier für Mode und Geschlechterrollen, Fluchtpunkt für überarbeitete Seelen. Und er ist aktuell akut bedroht. In diesem Raum wirken Bautätigkeit, Tourismus und globale Erwärmung desaströs zusammen: Der Sand und damit der Strand gehen verloren.

In Zahnpasta und Mikrochips

Die Metapher «Wie Sand am Meer» stimmt nicht mehr – darauf hat bereits Denis Delestrac mit seinem Dokumentarfilm «Sand Wars» (2013) hingewiesen, im Jahr darauf der Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Nach Wasser ist Sand der global meistgenutzte Rohstoff. Unsere Hygiene- und Sauberkeitsvorstellungen wären ohne dieses Material in Glas, Keramik, Zahnpasta und Reinigungsmitteln nicht umsetzbar und unsere Informationsgesellschaft ohne das aus Sand gewonnene Silizium für Mikrochips undenkbar.

Zwei Drittel aller Bauwerke weltweit sind aus Stahlbeton, der wiederum zu zwei Dritteln aus Sand besteht. In einem Atomkraftwerk stecken zwölf Millionen Tonnen des Rohstoffs. Strassen enthalten zu achtzig bis neunzig Prozent Sand, China erstellte davon allein 2013 über 140 000 Kilometer. BörsenbeobachterInnen äussern sich enthusiastisch zur boomenden Gasgewinnung durch Fracking in den USA, wozu Tausende Tonnen hochwertiger Quarzsand benötigt werden. Groben Schätzungen zufolge werden jährlich weltweit vierzig Milliarden Tonnen Sand für einen siebzig Milliarden US-Dollar schweren Markt abgebaut – Schmuggel nicht eingerechnet.

Sand gilt meist als «freie Ressource», was bedeutet, dass fördern kann, wer eine (von Staaten erteilte) Lizenz und das Geld für die Infrastruktur besitzt. Weil Flussbecken und Kiesgruben allmählich erschöpft sind und Wüstensand für den Betonbau ungeeignet ist, verlagert sich der Abbau zunehmend auf den Schelf. Dort kommen Schwimmbagger mit einer Fördermenge von 4000 bis zu 400 000 Kubikmetern pro Tag zum Einsatz. Jährlich wird doppelt so viel Meersand ausgehoben, wie es natürlichen Nachschub gibt.

Wenn der Nachschub stockt

«Wem gehört der Sand?» Die Frage geht an Paolo Greco, den administrativen Koordinator des Projekts zum Strandschutz in der nordsardischen Gemeinde Stintino. – «A nessuno.» Niemandem. Er komme und gehe mit der Strömung, gerade hier am Strand La Pelosa, wo er grossen physikalischen Kräften durch Wellen und Wind ausgesetzt sei.

Ein Kiesel aus dem Gebirge hat meist eine Jahrhunderte dauernde Reise in Fliessgewässern hinter sich, während der er die ISO-konforme Grösse von 0,06 bis 2 Millimeter erreicht, um als Sandkorn zu gelten und an einem der Weltstrände zu liegen zu kommen. Da gelangt er aber immer seltener hin. Die Hälfte der Sandkörner bleibt an einem der 845 000 Staudämme hängen, und aus den geschrumpften Meerdeltas wird weniger Sand an die Strände verbracht, weil Hafenanlagen, Molen und Schutzverbauungen die Küstenströmungen unterbrechen. Zusätzlich verhindern Immobilien mit Meersicht eine saisonale Verschiebung des Strandes Richtung Hinterland, womit er durch Wetterextreme und steigende Meeresspiegel stärker erodiert. Die oft ergriffenen und wirkungslosen Gegenmittel sind Betonblöcke an den Ufern oder auf dem Strand abgelegte Sandsäcke – hergestellt aus der Ressource, die nun anderswo fehlt.

Wie eine Erfindung von Sisyphos klingt auch das Vorgehen an den Stränden von Miami Beach, die überhaupt nur noch durch künstliche Eingriffe existieren, um den Tourismus- und Umsatzerwartungen gerecht zu werden: Mit grossen Maschinen wird vor der Küste Sand aufgesogen und auf den erodierenden Reststrand geschleudert. Dieser Vorgang bringt zuverlässig die Organismen des extrahierten Sandhabitats um, hinterlässt ein Loch im Meeresgrund sowie eine gigantische Unterwasserstaubwolke, die den übrigen Tieren und Korallen in der Gegend den Rest gibt. Und nach ein bis zwei Jahren ist der künstlich angehäufte Strand wieder ins Meer abgerutscht. Wirklich stabil ist nur die Einnahmequelle der Firma, die die Aufschüttungen durchführt.

Das Badetuch als Problem

In so eine Situation will man im sardischen Stintino gar nicht erst geraten. La Pelosa, ab und an auch als «Karibik des Mittelmeers» bezeichnet, besteht aus einer Düne und hellem Sandstrand, der flach in türkisfarbenes, transparentes Wasser führt und in den Wellen seine Topografie fast täglich ändert. Ein Strandschutzprojekt, seit 2006 durch verschiedene, auch europäische Fonds finanziert, soll diese Idylle erhalten. Bisher sichtbarste Massnahme sind die dünenschonenden Passerellen, über die man zur Liegefläche gelangt.

Das aktuell grösste Problem, so Greco, entstehe durch den Druck des Tourismus. Dieser Druck ist buchstäblich zu verstehen: An Spitzentagen besuchen bis zu 5000 Personen La Pelosa und pressen mit ihrem Körpergewicht den Untergrund zusammen. Gleichzeitig breiten sie quadratmeterweise Badetücher aus, die eine Sauerstoffzufuhr und Durchlüftung des Sandes verhindern, weshalb dieser auch an einem Sonnentag nicht mehr trocknet. Noch gravierender aber ist, dass dieser feuchte Sand an den Frotteetüchern kleben bleibt. Summa summarum hat es nach einem Tag weniger und nassen sowie plattgewalzten Sand auf einem abgesunkenen Terrain mit mehr Angriffsfläche für nächtliche Wellen. Deshalb gilt an La Pelosa seit Mai 2018 ein neues Strandnutzungsreglement, das unter anderem vorschreibt, die Badetücher mit einer Bastmatte zu unterlegen und nach dem Besuch die Füsse an eigens angebrachten Wasserhähnen vom Sand abzuspülen. Der Badeurlaub wird zum ökologischen Lehrstück.

Von der Gemeinde engagierte KontrolleurInnen weisen fehlbare TouristInnen auf den notwendigen Schutz des «territorio» hin. Tatsächlich verziehen sich RaucherInnen brav in die vorgesehenen Zonen und werfen die Kippe in bereitgestellte Kästen. Strandutensilien werden fleissig ausgeklopft, aufs mineralische Souvenir wird unter Androhung einer Busse ab 1549 Euro verzichtet. Der Ärger verschafft sich erst Luft, wenn die Inspektorin ausser Sicht ist: «Come pesante!» (Wie lästig) – «Che stupidità!» Fassungslos steht eine italienische Touristin neben ihrem gerade erst errichteten kleinen Strandreich, das sie nachzubessern angehalten ist. Verständnislosigkeit macht sich breit unter Kindern wie Eltern, als ihnen gesagt wird, dass die Sandburg am Ufer «hinterher rückgängig» gemacht werden soll.

Das etwaige Vergraulen von StrandbesucherInnen nimmt die Gemeinde bewusst in Kauf. Nachhaltig wären, so Paolo Greco, 1000 bis 1500 Personen pro Tag. Das neue Reglement habe in der Tat eine «ökodidaktische» Absicht. Sie wirkt – zumindest insofern, als man sich sofort fragt, ob die Düne (und der Wasservorrat) durch die obligatorischen Fussduschen nicht leide. Ob diese Sorge berechtigt ist, kann Architekt Greco nicht sagen. Während des auf zwanzig Jahre angelegten Projekts soll aber immer wieder aufs Neue evaluiert werden, wie sich das Ökosystem La Pelosa entwickelt.

Was bleibt

Der wirklich grosse Schritt zur Renaturierung steht aber erst noch bevor. Im Herbst 2019 soll die Küstenstrasse abgerissen und durch weitere Fussgängerpasserellen ersetzt werden, die Parkplätze müssen ins Hinterland weichen. Während die Lokalpresse dies als heimliche Installierung eines touristischen «Numerus clausus» interpretiert, sagt Greco, es sei besser, ökonomische Einbussen hinzunehmen, als auf lange Sicht alles zu verlieren.

Andernorts ist das bereits passiert. Indonesien verkaufte so lange Sand an Singapur, das sein Territorium in den letzten Jahrzehnten um ein Fünftel vergrösserte, bis 25 Inseln im Meer versunken waren. Die Hauptstadt der Malediven hat riesige Reserven dieser Ressource angehäuft, um neue Wohnungen für die vor dem steigenden Meeresspiegel flüchtenden InselbewohnerInnen zu bauen – bis man feststellte, dass die Sandverschiebung zum Absinken von Inseln führte, was noch mehr Leute heimatlos machte. Und in Marokko transportierte man illegal so viel Sand für den Bau von Hotels ab, dass es die Strände, für die die Gäste anreisen sollten, nicht mehr gibt. Zudem wurde das Material oftmals ungewaschen, also salzhaltig, verbaut, was die Gebäude nach wenigen Jahrzehnten korrodieren lässt.

Trotz allfällig schlechter Bausubstanz: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass von der menschlichen Zivilisation auf diesem Planeten in erster Linie betonstarrende Metropolen, Autobahnen und Flugfelder übrig bleiben. Es wird zukünftigen, bislang unbekannten Wesen vorbehalten sein, in diesen Sedimenten ehemalige Sandstrände und Mineralienvorräte zu erkennen, die überhaupt erst die moderne Entwicklung dieser inzwischen verblichenen Spezies ermöglicht hatten.

Ariane Tanner ist Historikerin aus Zürich. Ihr Interesse führt sie immer wieder zu kleinsten Dingen, die in grossen Zahlen auftauchen, wie zum Beispiel Plankton oder Sandkörner.