Klimawandel: Der Ort der Zuflucht versinkt im Meer

Nr. 48 –

Der steigende Meeresspiegel verschluckt langsam eine Inselgruppe vor der Küste Panamas. Fast 40 000 Menschen vom Volk der Guna werden aufs Festland umsiedeln müssen.

  • Kleininsel der Inselgruppe Ailidub.
  • Victoria Navarro, Vorsitzende der Frauenvereinigung auf Gardi Sugdub.
  • Icodub, vormals eine Kokosplantage, jetzt touristisch genutzt.
  • Pablo Presiado, der Sagla von Gardi Sugdub, besichtigt die geplante Neuansiedlung auf dem Festland.
  • Aridub, zwischen Ailidub und Gardi Sugdub gelegen.
  • Guna in der traditionellen Kleidung auf Gardi Sugdub.
  • Kleininsel der Inselgruppe Ailidub.
  • Das autonome Gebiet Gunayala Karte: WOZ

Im November beginnt die schlimme Zeit. Dann kommt der Wind aus dem Norden, drückt das Wasser gegen die Insel, wird zum Sturm und fegt die auf Stelzen ins Meer hinausgebauten Klohäuschen aus Palmstroh oder Zinkblech weg. Die Wellen reissen grosse Lücken in die mühsam errichteten Barrieren aus gebrochenen Korallen. Dann steht Gardi Muladub unter Wasser.

Niemand weiss, wann das Meer kommen wird, aber es wird kommen, das ist sicher. Es kommt immer um diese Zeit, und das schon seit Jahren. Im November, im Dezember, manchmal erst im Januar. Danach flaut der Wind aus dem Norden ab.

Besonders schlimm war es 2008. «Da standen wir zehn Tage lang bis zu den Knien im Wasser», sagt Carlos Pérez. Niemand kam weg von der Insel. Eine Überfahrt zum Festland im schmalen Einbaum wäre wegen Wind und Wellen viel zu riskant gewesen. «Wir konnten kein frisches Wasser holen und keine Nahrung», erzählt Pérez. Er sitzt im grossen Versammlungshaus der Insel, draussen regnet es in Strömen. Das Dach aus einem dicken Geflecht aus Palmstroh hält dicht. Die schmalen Wege zwischen den eng aneinandergeschmiegten Bambushütten aber stehen knöcheltief unter Wasser. Kinder tollen durch den Schlamm und spritzen sich nass.

Es ist nur Regen, der schnell versickert, wenn die Sonne wieder kommt. Wenn aber das Meer kommt, dann kann in den meisten Hütten tagelang nicht gekocht werden. Nur wenige auf der Insel haben einen Gasherd, die meisten Familien verfügen einzig über die traditionelle Feuerstelle in einer Kuhle im Boden, und die füllt sich schnell mit Wasser. Und das Meer wird kommen, auch in diesem Jahr.

Ein bis zwei Meter über Meer

Carlos Pérez ist der Sagla, der politische und spirituelle Führer der rund 350 EinwohnerInnen der Gemeinde Gardi Muladub. Er ist klein und schmal, vielleicht siebzig Jahre alt und trägt immer Hut und Krawatte als Zeichen seines Amts. Auch im Halbdunkel des Versammlungshauses nimmt er die Sonnenbrille nie ab und erinnert so ein bisschen an den alternden Ray Charles. Gardi Muladub liegt wenige Kilometer vor der karibischen Küste Panamas im Golf von Gunayala. Das Eiland gehört zum gleichnamigen Archipel, einer Gruppe von 365 Inselchen, die sich vom Golf bis zur Grenze mit Kolumbien erstreckt. Keines dieser Eilande ragt mehr als zwei Meter aus dem Ozean, viele nicht einmal einen. Aus der Ferne sehen die meisten wie Scheiben aus, die auf dem Wasser schwimmen. 49 dieser Inseln sind bewohnt. Fast 40 000 Menschen des Volks der Guna wohnen dort. In den nächsten Jahren werden sie alle aufs Festland übersiedeln müssen. Denn der Meeresspiegel steigt.

Es gibt nur eine wissenschaftliche Studie über die langsam versinkenden Inseln von Gunayala, veröffentlicht von den Meeresbiologen Héctor Guzmán, Carlos Guevara und Arcadio Castillo im Jahr 2003. Anhand von Messungen an Korallenriffen haben sie festgestellt, dass sich der Meeresspiegel vor der karibischen Küste Panamas zwischen 1907 und 1975 um durchschnittlich zwei Millimeter im Jahr erhöht hat. Seither hat der Anstieg dramatisch zugenommen: auf durchschnittlich 2,4 Zentimeter im Jahr.

Dieses Ergebnis deckt sich zeitlich mit anderen Phänomenen des Klimawandels. Auch das Abschmelzen der Arktis und der tropischen Gletscher in den Anden hat sich Mitte der siebziger Jahre explosionsartig beschleunigt. Die unbewohnten Inseln des Gunayala-Archipels haben seither fast zehn Prozent ihrer Fläche verloren. Die bewohnten Inseln dagegen haben Land gewonnen, fast fünfzehn Prozent. Wie das?

Mit Müll und Korallen aufgeschüttet

Guna-Familien haben viele Kinder, fünf oder auch sieben sind normal. Seit es auf den Inseln eng geworden ist, trotzen sie dem Meer neuen Boden ab, Quadratmeter für Quadratmeter. Im Einbaum paddeln sie hinaus zu den vorgelagerten Korallenriffen, brechen grosse Brocken heraus und bauen damit kleine Barrieren am Strand. Das so eingefriedete Stück wird mit feinen Korallenästen aufgeschüttet und dient danach als Müllplatz für den überwiegend organischen Abfall. Im feucht-heissen tropischen Klima bildet sich schnell eine Krume, die dann von Gras überwachsen wird. UmweltschützerInnen in Panama-Stadt, die besorgt sind um die Korallenriffe, würden das am liebsten verbieten. Die Guna aber schaffen sich so ihren Lebensraum und haben im Lauf der Jahrzehnte die Fläche vieler bewohnter Inseln verdoppelt. Heute sind sie froh, wenn sie das gewonnene Land halten können.

«Als ich noch jung war, vor vierzig oder fünfzig Jahren, konnten wir bei Ebbe zu Fuss hinaus zum Korallenriff», erzählt Pérez. «Das geht schon lange nicht mehr, das Wasser ist viel zu tief.» Und wenn dann zum Ende des Jahrs die Stürme und mit ihnen die hohen Wellen kommen, dann wird die mühsame Arbeit von Monaten oft einfach wieder weggespült. «Seit fünf Jahren debattieren wir im Dorf über eine Umsiedlung aufs Festland», sagt der Sagla. «Wir sollten langsam gehen.»

Einen Plan für ein neues Dorf gibt es schon, ausgearbeitet von einem Bauingenieur. Aber man bräuchte Land, und man bräuchte Geld. Bei der Regierung in Panama-Stadt, sagt Pérez, würden sie nur hingehalten. Einmal hat eine Abordnung des Dorfs auch bei der Botschaft von Japan angeklopft. «Sie sagten uns, Japan finanziere nur grosse Infrastrukturvorhaben, unsere Umsiedlung sei ihnen zu klein. Für uns aber ist sie zu gross.»

Am 1. Januar 2015 beginnt der Exodus

Gardi Muladub ist nur fünfzehn Bootsminuten von der näher am Festland liegenden, viel grösseren Insel Gardi Sugdub entfernt und schützt diese vor Strömungen und dem Druck des Wassers bei Wind. Über tausend Guna wohnen dort. Sie leiden weniger unter Überschwemmungen als ihre NachbarInnen. Allenfalls eine Woche lang stehe man knöcheltief im Wasser, wenn der Sturm das Meer auf die Insel drückt. Und doch hat die Versammlung der DorfbewohnerInnen schon vor fünf Jahren beschlossen: «Wir gehen zurück aufs Festland.» Pablo Presiado, der Sagla von Gardi Sugdub, sagt das entschlossen und nennt auch ein Datum: Am 1. Januar 2015 wird der Umzug beginnen.

Zurück? Presiado, ein fröhlicher Mensch, gross und stattlich, mit scharfer Hakennase und informell gekleidet, lacht verschmitzt. Hut und Krawatte, die Insignien eines Sagla, trägt der 68-Jährige nur bei den traditionellen Dorfversammlungen. Mit seiner Baritonstimme holt er weit aus: Ja, man gehe «zurück aufs Festland», weil sein Volk vor gut 150 Jahren von dort aus die Inseln bevölkert habe.

Die Guna stammen ursprünglich aus dem heutigen Kolumbien, und gut tausend von ihnen leben noch immer dort im Bergland der Provinz Antioquia. Die meisten aber sind vor rund 500 Jahren ins heutige Panama ausgewandert, vermutlich wegen Kriegen mit anderen Völkern und mit den das Land erobernden Spaniern. «Wir waren die Verlierer und sind gewichen», sagt Presiado. Zunächst liessen sich die Guna auf dem lang gezogenen Bergrücken der karibischen Seite Panamas nieder. Von dort zogen sie langsam hinunter in die schmale Küstenebene, weil dort der Boden fruchtbarer ist, viel besser geeignet für den Anbau von Yucca, Reis und Kochbananen.

In der Küstenebene aber gibt es auch Moskitos, in den Abendstunden der Monate Februar bis April in grossen dunklen Schwärmen. Mit ihren Stichen übertragen sie Malaria, Gelb- und Denguefieber. Die Guna flohen vor diesen Seuchen auf die vorgelagerten Inseln, wo es wegen der dauernden Brise keine Stechmücken gibt. Weil dort aber keine Quellen sind, siedelten sie nur in Küstennähe und immer gegenüber der Mündung eines kleinen Flusses. Dorthin paddelten die Frauen mehrmals am Tag, um frisches Wasser zu holen.

Seit ein paar Jahren sind die grösseren Inseln ans Leitungsnetz angeschlossen, und fast überall gibt es auch Licht: Vor beinahe jeder Hütte steht eine kleine Fotovoltaikzelle auf einem Mast, gerade gross genug, um zwei oder drei Glühbirnen mit Strom zu versorgen – ein Wahlgeschenk des am 1. Juli dieses Jahrs aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Ricardo Martinelli.

Autonomie dank Revolution

Erst auf den Inseln wurden die Guna zu Fischern. Ihre Felder blieben aus Platzmangel in der Küstenebene des Festlands. In den Bergen dahinter jagen sie noch immer Tapire. Auf den Inseln weiter draussen im Meer legten sie kleine Kokosplantagen an. Die brauchen keine Pflege, man muss nur zur Ernte vorbeikommen. Ein paar dieser Inseln werden heute touristisch genutzt – und sie sehen tatsächlich so aus wie das Klischee eines karibischen Paradieses: ein Sandhaufen mitten im Meer, mit Palmen bestanden und darunter im Schatten kleine Bungalows mit einem Dach aus Palmstroh. Vom beengten Leben auf den küstennahen Inseln bekommen die UrlauberInnen dort nichts mit – sie werden vom Festland direkt ins Hotel verschifft. Die Guna schützen ihre ganz eigene Kultur so gut es geht vor Einflüssen von aussen. Besonders stolz sind sie auf ihre Revolution von 1925.

Damals versuchte die Regierung in Panama-Stadt, die Guna in die von den spanischen Eroberern geprägte Kultur des Lands zu zwingen. Sie errichtete Polizeistationen auf der damals San Blas genannten Inselgruppe, schickte Richter und Verwaltungsbeamte. Den Guna wurde verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen, die Frauen mussten gegen ihren Willen eng umschlungen mit den Besatzern tanzen. Wer sich wehrte, wurde verhaftet und gefoltert. Die Guna überfielen Polizeistationen und besorgten sich Gewehre. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Toten auf beiden Seiten, am Ende zogen die Gesandten der Regierung ab und sind nicht wiedergekommen.

Heute heisst die Gegend Comarca Gunayala – neben den Inseln gehört auch der Küstenstreifen bis hinein ins Bergland dazu – und geniesst eine in Lateinamerika einzigartige Autonomie. Auf den Inseln gibt es keine Bürgermeister, sondern weiterhin nur die geistlichen und religiösen Führer der Guna, die gewählt, aber jederzeit auch wieder abgesetzt werden können. Es gilt die traditionelle Rechtsprechung des Volks, die als Strafe kein Gefängnis kennt, sondern nur die öffentliche Belehrung, die DelinquentInnen so tief beschämt, dass sie fürderhin nicht mehr straffällig werden. Ohnehin ist die soziale Kontrolle auf den Inselchen streng. Jede kennt jeden, nichts bleibt verborgen. Sogar die erste Menstruation von Mädchen wird öffentlich ausgerufen.

Mobilfunkantenne und rituelle Gesänge

Nur eine einzige schmale Strasse führt nach Gunayala, und obwohl das Gebiet Teil des Staats Panama ist, gibt es eine richtige Grenze mit Schlagbaum, die nur von sieben Uhr morgens bis vier Uhr am Nachmittag geöffnet ist. Zuerst kontrollieren panamaische Grenzsoldaten die Papiere, dann die Autonomiebehörde der Guna. InselbewohnerInnen, die ihr Gebiet verlassen wollen, brauchen eine schriftliche Genehmigung des Sagla ihrer Gemeinde.

Von der Grenze führt das Strässchen in engen Serpentinen hinunter in die Küstenebene zur Mole von Gardi Sugdub: eine Kneipe, ein Verwaltungsgebäude, ein Steg hinaus ins Meer. Von hier aus erreicht man die Inseln in Booten mit Aussenbordmotoren. In Gardi Sugdub ist man in fünfzehn Minuten. Bis zu den Inseln nahe der Grenze mit Kolumbien sind es acht Stunden Fahrt.

Gardi Sugdub ist ein richtiges Städtchen mitten im Wasser mit einer kleinen Einkaufsstrasse und zwei Molen. Sogar eine Antenne für den Mobilfunkempfang ist vorhanden. Viele Häuser haben Dächer aus Wellblech – es gibt nicht genügend Palmen in der Gegend, um alle mit dem traditionellen Stroh zu decken. Seit die Bevölkerung auf über tausend EinwohnerInnen gewachsen ist, hat Geld den traditionellen Tauschhandel weitgehend abgelöst. Wenn aber ein paar Fischer weit draussen im Meer einen grossen Thunfisch harpuniert haben und auf die Insel bringen, dann wird der wie früher gleich an der Mole unter vielen Familien aufgeteilt. Auf den kleineren Inseln sind noch heute kaum Scheine und Münzen im Umlauf.

Das Zentrum jeder Gemeinde ist ein grosses Versammlungshaus in der Mitte. Dort trifft sich die Bevölkerung allabendlich, um die Probleme der Insel zu debattieren. Jeder und jede hat Rederecht. Sollte die Debatte nicht im Konsens enden, wird das Thema entweder vertagt, oder es wird abgestimmt. Zweimal in der Woche findet eine religiöse Versammlung statt. In der Mitte sitzt der Sagla in einer Hängematte und singt Lieder aus der mündlichen Tradition der Guna in einer liturgischen Sprache, die nur die initiierten geistlichen Führer verstehen, vorgetragen mit näselnder Stimme in einer einschläfernd eintönigen Melodie.

Um den Sagla herum sitzen die Frauen auf groben Holzbänken, viele von ihnen sticken. Ganz aussen im Kreis sind die Männer. Ein paar Helfer des Sagla gehen durch die Reihen und holen die dahindämmernde Gemeinde mit lauten Rufen zurück zu den Liedern. «Seid aufmerksam!» – «Schlaft nicht ein!» Nach einer Stunde Gesang übersetzt der Argar – der Sprecher des Sagla – das vorgetragene Lied in freier Rede in die heutige Zeit. Man könnte das eine Predigt über einen überlieferten sakralen Text nennen.

Es gibt Lieder, die wie eine moralische Unterweisung wirken. Andere handeln vom Leben grosser Männer und Frauen. Und wieder andere erzählen die Geschichte des Volks der Guna. «Die Inseln kommen in keinem unserer traditionellen Lieder vor», sagt der Sagla Pablo Presiado. Die Gesänge gehen zurück in die Zeit vor der Ankunft der Guna auf den Inseln. Eine Rückkehr aufs Festland, sagt Presiado, würde deshalb die Kultur seines Volks nicht gefährden.

Unzuverlässige Regierungshilfe

Schon vor vier Jahren hat die Dorfversammlung die Umsiedlung beschlossen. «Nur drei oder vier Familien waren dagegen», sagt Presiado. «Es gibt immer ein paar, die dagegen sind, und niemand wird gezwungen.» Allen anderen war klar: Es wird zu eng auf der Insel. An weitere Aufschüttungen ist nicht mehr zu denken. Es kostet schon genügend Kraft und Anstrengung, das dem Meer abgetrotzte Land während der um den Jahreswechsel herum herrschenden Stürme und Überschwemmungen zu halten. Und die Bevölkerung wächst weiter. In vielen Hütten sind die Hängematten schon jetzt auf zwei Stockwerke verteilt. «Alles ist so eng bebaut», sagt Presiado besorgt, «dass die Kinder keinen Platz mehr zum Spielen haben.»

Die Voraussetzungen für den Umzug sind im Grunde ideal. Die Gemeinde besitzt auf dem Festland siebzehn Hektar Land – gut dreimal so viel wie die Insel umfasst. Das liegt rund einen Kilometer hinter der Küste und hoch genug, um vor Überschwemmungen sicher zu sein. Ganz in der Nähe führt die einzige Zugangsstrasse zur Comarca Gunayala vorbei. Die Regierung hat versprochen, dort ein Krankenhaus und ein Schulzentrum mit einem angeschlossenen Internat für die ganze Inselregion zu bauen. Es gab auch das Versprechen, den Bau der ersten 65 Häuser des neuen Dorfs von Gardi Sugdub mit 2,4 Millionen US-Dollar zu finanzieren. Sogar die Skizze eines Bebauungsplans hat der Sagla im Bauministerium in Panama-Stadt gesehen. Schon vor vier Jahren haben die BewohnerInnen von Gardi Sugdub den Regenwald auf dem vorgesehenen Gelände gerodet.

Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die Natur hat sich alles zurückgeholt. «Ich war oft im Bauministerium in der Hauptstadt», erzählt Presiado. «Aber dann wurde der Minister ausgetauscht, und sein Nachfolger sagte uns, das bereitgestellte Geld habe man für einen Notfall in einer anderen Gegend Panamas ausgegeben.» Dann kam am 1. Juli der Regierungswechsel, und heute weiss niemand, wer in der neuen Regierung zuständig ist für die Umsiedlung von Gardi Sugdub. «Bei meinem letzten Besuch haben sie nicht einmal mehr den Plan für das neue Dorf gefunden.»

Das Krankenhaus sollte eigentlich seit Juni fertig sein. Es steht nur die Hülle aus Beton und gammelt als Investitionsruine vor sich hin. Die Mauern werden langsam schwarz vom Regen und vom Pilzbefall. Vom Schulzentrum – geplante Fertigstellung: Oktober 2014 – gibt es bislang nur Gerüste. Immerhin aber wird dort gearbeitet. «Wenn wir bis zum 31. Dezember keine Antwort aus Panama-Stadt bekommen, fangen wir am 1. Januar mit dem Roden des Geländes an», sagt Presiado. Das zweite Mal soll das letzte Mal sein. Die Gruppen für den Arbeitseinsatz sind schon zusammengestellt.

Das für die Umsiedlung zuständige Dorfkomitee hat bei einer Tiefbaufirma nachgefragt, was es denn kosten würde, das Gelände mit schwerem Gerät zu nivellieren. 18 000 Dollar, war die Antwort. In der Gemeindekasse aber lagen nur 4000 Dollar. Die Dorfgemeinschaft hat dann beschlossen, dass Prepaidkarten für die Mobiltelefonie auf Gardi Sugdub nicht mehr privat verkauft werden dürfen, sondern dass der Erlös für die Erdarbeiten gespart wird. «Wir werden gehen», sagt Presiado. Egal ob Geld aus der Hauptstadt kommt oder nicht. Und nicht nur die ersten 65 Familien, wie es das Bauministerium einmal vorgesehen hatte, sondern alle auf einmal. «Zur Not werden wir zunächst in Hütten aus Holz und Karton wohnen.»

Und was ist mit den Seuchen? Es gibt noch immer Moskitos in der Küstenebene und mit ihnen Malaria, Gelb- und Denguefieber. Die Sorge hat auch Victoria Navarro umgetrieben, die Vorsitzende der Frauenvereinigung auf Gardi Sugdub. Die Mutter von sieben Kindern und Grossmutter von zehn EnkelInnen ist eine Frau der Tat und eine Respektsperson im Dorf. In politischen und religiösen Fragen haben bei den Guna zwar die Männer das Sagen. Vererbt aber wird von der Mutter auf die Töchter. Heiraten die Söhne, dann müssen sie entsprechend das Haus der Familie verlassen. Navarro trägt stets die traditionelle Tracht der Guna-Frauen – einen langen Wickelrock, eine bunt bestickte Bluse und Stulpen aus Perlengewebe an Armen und Beinen. Wenn sie in der Gemeindeversammlung spricht, verstummen die Männer. Sie hat die beiden einzigen Guna-Gemeinden auf dem Festland besucht, die niemals auf die Inseln übergesiedelt sind und schon seit Jahrhunderten im Regenwald wohnen. «Ich habe dort mit den Frauen geredet, und diese haben mich überzeugt: Man kann die Krankheiten auf natürliche Art kontrollieren.»

Die Guna glauben, dass jede Pflanze und jedes Tier einen Lebenszyklus hat, genauso wie der Mensch. Wenn man diese Zyklen studiert und verstanden hat, lässt sich ein Gleichgewicht herstellen, in dem alle miteinander auskommen können; auch der Mensch und die Moskitos. Navarro weiss jetzt: «Die Krankheiten sind nur von Februar bis April eine Gefahr, und das hängt mit dem Lebenszyklus der Moskitos zusammen.» In diesen Monaten müsse man das Gelände im Dorf besonders sauber halten, es dürfe keine Pfützen geben und auch sonst kein stehendes offenes Wasser. «Man wird die Krankheiten nicht ganz vermeiden können, aber es ist möglich, mit ihnen zu leben.»

Dieses Gleichgewicht will Navarro auch mit dem Regenwald hinter der Küste suchen. «Wir werden nicht mehr roden, als unbedingt nötig ist», sagt sie. 450 Quadratmeter für jede Familie: für ein Haus und einen kleinen Gemüsegarten. Mehr wollen die Guna nicht und mehr, glauben sie, ist ihnen auch nicht erlaubt. «Wir dürfen dem Wald nicht mehr wegnehmen, als wir unbedingt brauchen», sagt sie.

Im weltweiten Massstab sei das Gleichgewicht der Natur längst durcheinandergebracht, und eben deshalb steige der Meeresspiegel. «Es sind die grossen und reichen Länder, die alles verschleudern, das Erdöl, die Kohle», sagt sie. «Das kann nicht mehr repariert werden.» Den Guna bleibt nur die Flucht aufs Festland. «Wie sind nicht schuld daran. Wir leiden nur darunter.»

Victoria Navarro weiss, dass ihr Volk viel länger auf dem Festland lebte als auf den Inseln. Dass sie Jäger waren und Bäuerinnen, keine Fischer auf dem Meer. Sie aber werde sich nicht wieder an das Leben gewöhnen, das in den alten Liedern besungen wird. Mit ihren 53 Jahren, glaubt sie, sei sie zu alt. Vielleicht aber wird es für ihre EnkelInnen eines Tages normal sein, das Meer nur noch aus der Ferne zu sehen. «Mir wird es fehlen, das Geräusch der Wellen, wenn es still wird am Abend und man nichts anderes mehr hört.»

Weltklimagipfel in Lima

Vom 1. bis 12. Dezember treffen sich die 194 Mitgliedstaaten der Klimarahmenkonvention in Lima. Es geht um einen Nachfolgevertrag für das Kyoto-Protokoll, in dem sich alle Länder auf bindende Ziele zur Beschränkung von Treibhausgasemissionen ab 2020 verpflichten sollen. Als entscheidend gilt die Beteiligung möglichst vieler Länder am Green Climate Fund, einem 2010 errichteten Hilfsfonds für Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern. Er soll ab 2020 mit jährlich hundert Milliarden US-Dollar gespeist werden. Noch sind aber nicht einmal die zehn Milliarden US-Dollar Anschubfinanzierung eingegangen.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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