Sexuelle Gewalt: «Im Bett brauchts keinen Notar»

Nr. 38 –

Agota Lavoyer berät Opfer sexueller Gewalt und setzt sich für eine Revision des Sexualstrafrechts ein. Sie erklärt, wie sich «Nein heisst Nein» von «Ja heisst Ja» unterscheidet und was das alles mit Hausfriedensbruch zu tun hat.

«In unseren Köpfen halten sich sehr hartnäckige Vergewaltigungsmythen.» Agota Lavoyer

WOZ: Frau Lavoyer, am Erscheinungstag dieser WOZ debattiert der Ständerat über einen besseren Schutz von Opfern sexueller Gewalt. Sie haben kürzlich mit dem «Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen» einen Appell für eine grundlegende Revision des Sexualstrafrechts verfasst. Wieso braucht es eine Revision?
Agota Lavoyer: Zurzeit muss ein Täter das Opfer nötigen, damit ein sexueller Übergriff rechtlich als Vergewaltigung gilt. Das ist völlig realitätsfern. Ein grosser Teil der Frauen, die wir beraten, haben sexuelle Übergriffe erlebt, bei denen keine physische Gewalt im Spiel war. Sie alle lässt unser Rechtssystem einfach im Stich. Ihre Fälle sind vor Gericht quasi chancenlos. Es braucht also eine Revision für die Betroffenen, damit sie eher die Möglichkeit haben, Gerechtigkeit zu erfahren. Und damit mehr Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Revision hat aber auch eine präventive Wirkung. Denn viele Täter sind sich bewusst, wie risikoarm eine Sexualstraftat in der Schweiz ist.

Im Appell sprechen Sie sich für die Zustimmungslösung nach dem «Ja heisst Ja»-Prinzip aus. In Deutschland gilt seit letztem Jahr mit dem Grundsatz «Nein heisst Nein» die Vetolösung. Worin unterscheiden sich die beiden Ansätze?
Bei der Vetolösung gilt: Sagt eine Person vor oder während des Sex Nein oder zeigt auf andere Weise, dass sie nicht mehr möchte, ist es strafbar, wenn man trotzdem weitermacht. Heute gilt es eben noch nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung, wenn eine Frau etwa Nein sagt und während des Sex weint, solange keine physische Gewalt angewendet wird.

Und was ist der Unterschied zur Zustimmungslösung?
Mit «Ja heisst Ja» gehen wir einen Schritt weiter. Sexuelle Handlungen sind erst dann in Ordnung, wenn alle Involvierten sagen oder auf andere Weise kundtun, dass sie in jedem Moment mit dem einverstanden sind, was sie machen. Das gilt auch während des Aktes, wenn die Frau beispielsweise keinen Analsex möchte, obwohl sie dem Geschlechtsverkehr am Anfang grundsätzlich zugestimmt hat. Das Ja oder das Nein kann formlos sein. Es braucht keinen Notar im Bett, wie manche Gegner einer Revision befürchten. Es ist eigentlich wie beim Hausfriedensbruch …

Hausfriedensbruch?
Ja, auch beim Hausfriedensbruch geht es um «consent». Nehmen wir mal an, Sie klingeln an meiner Haustür: Dann kann ich Ihnen signalisieren, dass Sie in mein Wohnzimmer kommen können. Das muss nicht verbal sein, ich kann Sie auch hereinwinken oder Ihnen sonst irgendwie verständlich machen, dass Sie willkommen sind. Wenn ich das aber nicht tue, und Sie kommen trotzdem rein, dann ist das Hausfriedensbruch, auch wenn Sie dabei nicht gewalttätig werden. Das Konsensprinzip ist juristisch alles andere als neu, darum muss es auch beim Sexualstrafrecht möglich sein.

Sie kritisieren, dass das heutige Sexualstrafrecht von einem stereotypen Sexualdelikt ausgehe: vom fremden Mann, der nachts im dunklen Park eine Frau überfällt. Dabei ist längst bekannt, dass mindestens zwei Drittel der Opfer den Täter vor der Tat bereits kannten.
Das ist nur einer von vielen hartnäckigen Vergewaltigungsmythen, die bis heute in unseren Köpfen tief verankert sind – nicht nur in den Köpfen von Männern. Ich denke, bei den Frauen geht es auch um eine Art Selbstschutz: Es ist erträglicher zu denken, dass man sich schützen kann, indem man zum Beispiel nachts nicht alleine nach Hause geht, als das Gefühl zu haben, dass einem überall etwas passieren kann, sogar zu Hause. Wird eine Frau tatsächlich im Park überfallen und vergewaltigt, finden das alle schlimm, und generell wird der Frau keine Mitschuld gegeben. Bei Sexualdelikten in den eigenen vier Wänden werden auch im engsten Umfeld Fragen gestellt: «Bist du sicher, dass er gemerkt hat, dass du es nicht willst? Wieso bist du nicht einfach aufgestanden und gegangen? Wieso hast du dich nicht gewehrt?»

Implizit wird der Frau also eine Mitverantwortung gegeben.
Genau. Heute ist das Opfer auch im Strafrecht indirekt mitschuldig, weil es sich nicht gewehrt hat. Es braucht oft eine Gegenwehr, damit der Übergriff überhaupt gewalttätig wird. Es reicht nicht, wenn eine Frau einfach versucht, ihre Beine zusammenzupressen.

In einer Medienmitteilung schreiben Sie, dass die meisten Täter keine Gewalt anwenden müssten, da sie die Überforderung des Opfers ausnutzen würden. Können Sie das ausführen?
Eine bekannte Reaktion bei Opfern von sexueller Gewalt ist das sogenannte «freezing». Man erstarrt, und die Atmung wird heruntergefahren. Viele Frauen sagen, dass sie gar nicht um Hilfe schreien konnten, obwohl sie das eigentlich wollten. Andere wiederum wehren sich nicht aus Angst, dass alles noch schlimmer werden könnte. Im privaten Bereich kommt die Überraschung hinzu: Man erwartet es nicht vom Arbeitskollegen oder vom Schulfreund, der doch eigentlich ein guter Typ ist.

Sie sagten vorhin, dass Sie sich von einer Gesetzesrevision auch einen präventiven Effekt erhoffen. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Täter über die aktuelle Rechtslage informiert, bevor er einen Übergriff verübt?
Ich glaube, dass die meisten Leute heutzutage einschätzen können, ob man mit etwas davonkommt und wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, erwischt zu werden, sei es beim Ladendiebstahl, beim Kiffen oder eben einem sexuellen Übergriff. Aus der Täterarbeit weiss man, dass Grenzen durchaus bewusst überschritten werden und weitergemacht wird, auch wenn die Frau beispielsweise weint oder sagt, dass es ihr wehtut. Ich glaube aber auch, dass nur die wenigsten an ein Date gehen mit der Absicht, eine Frau zu vergewaltigen, vieles entsteht erst im Moment. Auch hier sind wieder Vergewaltigungsmythen im Spiel: Die Frau, die Nein sagt, obwohl sie Ja meint. Der Mann, der einen so unbändigen Sexualtrieb hat. Das alles hilft, sich die Tat nachher zurechtzulegen.

Der Bundesrat sieht bisher keinen Revisionsbedarf im Sexualstrafrecht. Woher kommt dieser Widerstand?
Das frage ich mich auch immer wieder. Ich denke, dass das Ausmass der sexuellen Gewalt nach wie vor verkannt wird und viel Unwissen da ist. Dabei verlangt auch die von der Schweiz unterzeichnete Istanbul-Konvention klar das Konsensprinzip, wie es in anderen europäischen Ländern bereits existiert. Nicht zuletzt widerspiegelt ein Gesetz die Moralvorstellungen einer Gesellschaft. Wenn der Ständerat oder der Bundesrat das Konsensprinzip als unnötig erachten, prägen sie die Haltung massgeblich mit, dass eine Vergewaltigung ohne Gewaltanwendung nicht wirklich sexuelle Gewalt ist. Und das ist verheerend.

Die Sozialarbeiterin Agota Lavoyer (38) ist stellvertretende Leiterin und Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern.