Sexuelle Gewalt: Wenn ein Nein nicht reicht

Nr. 9 –

Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe kommen in der Schweiz in einem hohen Mass vor. Der gesellschaftliche Umgang damit ist unbeholfen – das spiegelt sich auch in der Rechtspraxis.

Jahrzehntelang hat die Justiz ignoriert, dass sexualisierte Gewalt oft im Ehebett stattfindet: Erst seit 2004 gilt Vergewaltigung in der Ehe als Offizialdelikt.

Grapschen, geifern, die aufdringliche und unerwünschte Anmache an der Bar. Subtile oder offene sexuelle Aggression. Das Nein, das nicht respektiert wird. Wo beginnt sexuelle Gewalt? Wer darf das bestimmen? Und was heisst das für den strafrechtlichen Umgang damit?

Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation von 2013 zeigt, dass weltweit jede dritte Frau Opfer von körperlicher Gewalt wird. In der Schweiz wurden 2014 laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 556 Vergewaltigungen gemeldet – das sind gut zehn pro Woche. Die Dunkelziffer ist bei Sexualdelikten extrem hoch, man geht davon aus, dass nur etwa zwanzig Prozent der Fälle angezeigt werden.

Warum ist gerade bei sexueller Gewalt die Dunkelziffer derart hoch? Warum erstatten viele Betroffene keine Anzeige? «Anzeige zu erstatten und das Strafverfahren durchzustehen, ist sehr belastend für die Betroffenen», sagt die Psychologin Mirjam Della Betta von der Frauenberatung Sexuelle Gewalt: «Die Betroffenen können sich während der ganzen Zeit nicht vom traumatischen Erlebnis distanzieren.» Hinzu kämen Schuld- und Schamgefühle, die Unfähigkeit, über das Geschehene zu sprechen. «Manchmal sind es auch Erinnerungslücken oder die Angst, nicht glaubwürdig zu sein», so Della Betta.

Die einzigen Beweise

Die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, ist nicht unbegründet. «Die Anforderungen an die Glaubhaftigkeit der Betroffenen sind sehr hoch – ihre Aussagen sind meist die einzigen Beweismittel in einem Prozess», erklärt die Rechtsanwältin Birgit Rösli, die Betroffene vor Gericht vertritt und Mitglied im Verein Limita zur Prävention sexueller Ausbeutung ist.

Sexuelle Gewalt geschieht überwiegend unbeobachtet, als «Vieraugendelikt», wie Rösli es nennt. Doch gerade auch Intimes preisgeben zu müssen – in den Befragungen für die Strafuntersuchung –, ist für die Betroffenen besonders schwierig. Laut Rösli werden die Opfer bei der Befragung viel stärker in die Mangel genommen als der Täter: «Opfern von sexuellen Übergriffen wird häufig unterstellt, sie würden aus Rache am Beschuldigten oder weil sie Geld von diesem wollten, falsche Aussagen machen.» Wenn nun aber Zweifel an der Aussage der Betroffenen bestehen, heisst das: Freispruch für den Verdächtigen. In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.

Wer aber bestimmt, was glaubwürdig ist? Wo strafrechtlich relevante, sexuelle Gewalt anfängt? Grenzüberschreitungen sind individuell, ein subjektives Empfinden. Gesetze und das Strafrecht wiederum funktionieren nach abstrakten Kriterien. Gerade die intimen Befragungen werden von feministischen Kreisen immer wieder kritisiert. So schreiben die AutorInnen des Handbuchs «Antisexismus_reloaded»: «Die mainstream Gewaltdefinition ist der hegemonial männlich geprägten Gesellschaft entsprungen. Aber nur die betroffenen Frauen selbst können definieren, ab wann Gewalt anfängt, Grenzen überschritten werden und was sie als Gewalt wahrnehmen.»

«Das Recht der Betroffenen auf Schutz und die Strafverfolgung der Täter und die Unschuldsvermutung, das ist ein enormes Spannungsfeld», sagt auch Anwältin Rösli. «Aber wenn die Definitionsmacht allein beim Opfer liegt, ist das kein objektiver Massstab.» Das führe zu einer grossen Rechtsunsicherheit. Juristisch gilt als Vergewaltigung beziehungsweise sexuelle Nötigung, wenn jemand eine andere Person zu sexuellen Handlungen zwingt, indem er sie «bedroht, Gewalt anwendet, unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht».

In der Rechtspraxis reiche es aber nicht für eine Verurteilung, wenn jemand einfach Nein gesagt habe und darauf keine körperliche Gegenwehr erfolgt sei, erklärt Rösli: «Im Alltag sind die Situationen oft komplex.» Habe das Opfer vielleicht eher spät Nein gesagt, weil es anfänglich einverstanden war, dann werde ihm häufig eine Mitschuld unterstellt – zuerst habe es ja mitgemacht.

Die Behauptung, dass Betroffene mitschuldig seien, gehört zu den weitverbreiteten Vergewaltigungsmythen. Ebenso wie die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt überwiegend nachts in einer dunklen Gasse stattfinden würde, ausgeübt von einem physisch sehr gewalttätigen Fremden. Entspricht ein Vorfall nicht diesem Stereotyp, wird die Wahrnehmung der betroffenen Person vielfach angezweifelt – sei dies auf sozialer oder auf strafrechtlicher Ebene (vgl. «‹Ich weiss, du wolltest es …›» im Anschluss an diesen Text).

Vor der Tatsache, dass sexuelle Gewalt vielmals im Ehebett stattfindet, hat die Justiz jahrzehntelang die Augen verschlossen: Bis 1992 war eine Vergewaltigung in der Ehe juristisch schlichtweg inexistent. Erst seit 2004 gilt Vergewaltigung in der Ehe nicht mehr als Antrags-, sondern (wie auch ausserhalb der Ehe) als Offizialdelikt.

Noch immer geschehen die meisten sexuellen Übergriffe im Bekanntenkreis. So verzeichnete das Bundesamt für Statistik 2014, dass die Betroffenen in rund der Hälfte der Beratungsfälle die Täter aus familiären oder intimen Beziehungen kannten.

«Ganz normale Typen»

Die Psychologin Barbara Krahé und die Rechtsprofessorin Jennifer Temkin haben untersucht, wie ausgebildete JuristInnen, aber auch LaiInnen unterschiedliche Fälle von sexueller Gewalt beurteilten. In den fiktiven Beispielen unterschieden die Forscherinnen zwischen fremden Tätern, bekannten Tätern und Exfreunden als Tätern. Zudem variierte in den Fallbeispielen die Form, mithilfe derer das Opfer gefügig gemacht wurde: mit körperlicher Gewalt oder mit Alkohol. Juristisch gelten alle Beispiele als Vergewaltigung. Aber je besser die Betroffene den Täter kannte, desto mehr Mitschuld schrieben die ProbandInnen ihr zu. Den Tätern, die ihr Opfer ausnutzten, indem sie es alkoholisierten, wurde weniger Verantwortung angerechnet als jenen, die physische Gewalt einsetzten. Beim gleichen Szenario mit dem Straftatbestand Raub hingegen erschien den ProbandInnen der Alkoholpegel des Opfers als kaum relevant.

«Vergewaltigungsmythen, die sexualisierte Gewalt begünstigen»: Damit wird auch die Psychologin Mirjam Della Betta von der Frauenberatung immer wieder konfrontiert. «Noch immer ist das Bild vorherrschend, dass sexuelle Gewalt ein Ausnahmegeschehen und als solches selten sei.»

Das hat eine Problematik zur Folge, die weder schärfere Gesetze noch die alleinige Definitionsmacht der Betroffenen aufzulösen vermögen: «Die Vorstellung, dass Männer entweder durch und durch gut oder aber böse Vergewaltiger sind, hält uns davon ab, der alltäglichen Gewalt in unserer Gesellschaft ins Auge zu sehen», sagt die britische Feministin und Autorin Laurie Penny (siehe WOZ Nr. 25/2015 ). Auch deshalb sei es so schwierig, über sexuelle Gewalt zu sprechen – da die erste Reaktion meist die Sorge um den Ruf der Männer sei statt jene um die Handlungsfähigkeit der Frauen. «Vergewaltiger sind oft ganz normale Typen. Vielen Männern, die eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff begehen, ist gar nicht bewusst, dass sie dies tun. Sie verhalten sich so, weil ihnen beigebracht wurde, dass sie ein Recht auf die Körper von Frauen haben.»

Das beobachtet auch der Männer- und Sexualberater Martin Bachmann vom Mannebüro in Zürich. «Sexualisierte Gewalt ist ganz klar eine Machtdemonstration.» Oftmals berät Bachmann Männer, die selbst unsicher, überfordert oder in Not sind und meinen, den «Macker» heraushängen zu müssen – dann «machen sie einfach mal und hören das Nein nicht mehr». Die Justiz komme dabei an Grenzen, es gebe Grauzonen, sagt Bachmann. Wenn es dann aber zu sexueller Gewalt komme, sollten sich Täter «subito» ebenso Hilfe holen wie auch die Opfer.

Fazit: Sexuelle Gewalt gegen Frauen hat unzählige Facetten – sie ist eine alltägliche Angelegenheit. Starre Rollenbilder, Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit, fehlende Gleichstellung zwischen Mann und Frau – sie alle tragen dazu bei. Es ist Zeit, sie endlich aufzubrechen.

Rape Culture : «Ich weiss, du wolltest es …»

«Rape Culture», also Vergewaltigungskultur, meint eine Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt in einem hohen Mass geschieht – nicht aber als solche anerkannt wird: Betroffenen wird generell misstraut oder eine Mitschuld zugeschoben, indem TäterInnen geschützt oder Vorfälle verharmlost werden. Aufgekommen ist der Begriff in den 1970er Jahren in den USA, als betroffene Frauen erstmals in einem grösseren Umfang öffentlich über Vergewaltigungen sprachen.

«Victim Blaming», den Betroffenen die Schuld zuzuschieben, äussert sich zum Beispiel in vermeintlich kleinen Bemerkungen wie etwa: «Wer betrunken und so leicht bekleidet so spät nachts alleine unterwegs ist, braucht sich nicht wundern, wenn …»

Auch Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Wenn sie beispielsweise von «Sex-Vorwürfen» («Tages-Anzeiger») gegen Prinz Andrew, von «weiblichen Sex-Opfern» («Blick») in Zürich oder von «Sex-Skandalen» (NZZ) des ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn schreiben – und es eigentlich um Vergewaltigungsvorwürfe oder um weibliche Vergewaltigungsopfer geht. Da das Wort «Sexvorwurf» keine Gewalt impliziert, wirkt sich dies wiederum relativierend auf die tatsächlichen Gewaltvorwürfe aus.

In der Film- und Musikwelt wird Rape Culture ebenfalls sehr häufig bedient. Dann etwa, wenn Serien wie «Game of Thrones» oder «Narcos» Vergewaltigungsszenen regelmässig als Lückenfüller einbauen – ohne dass dieser Handlungsstrang weiterverfolgt würde. Und diese darüber hinaus so «erotisch» inszeniert werden wie Sexszenen.

Oder wenn Radiosender Lieder wie «Blurred Lines» von Robin Thicke hoch und runter spielen: «Ich weiss, du willst es. Ich weiss, du willst es. Du bist ein gutes Mädchen. Ich geb dir etwas, das gross genug ist, deinen Hintern entzweizureissen.»

«Wir müssen weg von einer Kultur des ‹Du willst es doch auch!› – hin zu einer Kultur des ‹Willst du auch?›», sagte unlängst die Autorin Anne Wizorek bei einem Vortrag in Berlin. 2013 initiierte Wizorek in den sozialen Medien den Hashtag #aufschrei, um auf Sexismus und sexualisierte Gewalt im Alltag aufmerksam zu machen.

Merièm Strupler