Grundrechte: Wenn die Angst regiert

Nr. 16 –

Mit Drohnen, Apps und Demoverboten: Im Zuge der Coronakrise werden grundlegende Freiheiten ausgehebelt. Passen wir nicht auf, bleiben sie es auch nach dem Lockdown – doch die Extremsituation bietet auch Grund zur Hoffnung.

Es sind bloss Nachrichtenschnipsel, die durch die Ticker schwirren, doch sie lassen aufhorchen: In München wird man fürs Verweilen auf der Parkbank gebüsst, in Barcelona fürs Frische-Luft-Schnappen nach dem Homeoffice. Draussen aufhalten dürfen sich sowieso nur Kleingruppen, und in Rom werden Obdachlose bestraft, die während des Lockdowns nirgends hinkönnen. Schöne neue Welt.

Während die Versammlungsfreiheit ausgesetzt ist, breitet sich die digitale Kontrolle aus: Im Aargau überwacht die Polizei den öffentlichen Raum in Echtzeit. In Genf kontrollieren Drohnen Ausgangssperren, in Nizza lassen sie behördliche Parolen auf die Leute niederprasseln. Und über allem schwebt das Heilsversprechen einer Überwachungs-App, mit der sich die Ausbreitung des Virus durch Contact Tracing – noch so ein schönes neues Wort in diesen Tagen – verhindern lässt. So sieht es aus, das Leben in Zeiten der Pandemie, zumindest in seiner pessimistischen Version. Die Dystopie als neuer Normalzustand. Die Welt im Bann einer Infektionskurve.

So bereitwillig sind Einschnitte noch selten akzeptiert worden. Und selbst HistorikerInnen, die grosse Vergleiche für gewöhnlich scheuen, sprechen von einer «einmaligen Situation». Überall werden im Zuge der Coronakrise Freiheiten eingeschränkt, in bisher ungekanntem Mass, in Diktaturen ebenso wie in liberalen Ländern. Milliarden Menschen dürfen ihr Haus nicht verlassen, epidemiologischer Hausarrest; Versammlungen sind ebenso verboten wie Protestbekundungen, die Bewegungsfreiheit ist ausgesetzt.

Zwanzig EU-Staaten hätten «eine Art Notstandsgesetzgebung» verabschiedet, sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission vor kurzem. Regierungen, die schon vorher autoritäre Tendenzen aufwiesen, schreiten im Eiltempo voran. Dass sie vorgeben, mit möglichst harten Mitteln den Kollaps zu verhindern, macht sie nur stärker.

Ein Parlament meldet sich ab

Auch in der Schweiz, die sich gerne als Musterdemokratie sieht, ist in diesen Wochen vieles neu. Abstimmungen, die noch für reichlich Gesprächsstoff gesorgt hatten: auf unbestimmt verschoben. Die Gewaltenteilung: praktisch aufgehoben. Die Gerichte sind in den Ferien, das Parlament hat sich gleich zu Beginn der Krise abgemeldet. Ein Schritt, den unsere Nachbarn nicht wagten und der unverständlich bleibt, weil demokratisch legitimierte Institutionen doch gerade in der Krise funktionieren sollten. Die Armee: zum ersten Mal seit Jahrzehnten mobilisiert, mit relativ unklarem Ziel. Hauptsache aufbieten.

Das ist sie im Jahr 2020 also, die viel beschworene «Stunde der Exekutive». Was ihre Wirkungsweise betrifft, sieht die Schriftstellerin Juli Zeh eine «bedenkliche Bestrafungstaktik» am Werk. «Die Ansage lautet: Wenn ihr nicht tut, was wir von euch verlangen, seid ihr schuld an einer weiteren Ausbreitung des Virus und an vielen Toten in der Risikogruppe», so Zeh in einem aufsehenerregenden Gespräch mit der «Süddeutschen Zeitung». So bereite die Politik den Menschen ein schlechtes Gewissen, übe moralischen Druck aus, damit sie sich an die Regeln hielten. Dieses Dilemma schaffe einen «künstlichen Antagonismus» – zwischen Menschenrechten und Menschenleben.

Dass viele der Massnahmen notwendig sind, weil sie Leben retten, steht ebenso ausser Zweifel wie, dass die Schweiz nicht Ungarn ist. Umso gefährlicher, dass kaum über die radikalen Mittel gestritten wird, sie zumeist unhinterfragt bleiben. In einem Ernstfall wie dem jetzigen scheinen alle Wege recht, um die Kurve zum Abflachen zu bringen. Während die Vollmachten umfassend wie selten sind, gilt Kritik rasch als Nestbeschmutzung.

«Opposition wird nicht honoriert und kommt deshalb faktisch nicht vor; in der Stunde der Not müssen alle zusammenrücken», schreibt der Jurist Uwe Volkmann in einem Beitrag für den «Verfassungsblog», eine internationale Onlineplattform von RechtsexpertInnen. Was Volkmann über Deutschland sagt, gilt auch für die Schweiz. In Zeiten wie diesen fällt die Wachsamkeit der Angst zum Opfer.

Snowdens düsteres Szenario

Auch wenn vielen Prävention als bessere Variante scheint: So manches, was jetzt unter dem Eindruck der Bilder von Särgen in italienischen Geisterstädten eingeführt wird, dürfte auch nach dem Ende der Pandemie so schnell nicht verschwinden. Wie lange wird das Echo nachhallen, wenn der Lockdown Geschichte ist? Und wer garantiert, dass die Pandemie nicht zum Präzedenzfall wird, zur Blaupause, um bei der nächsten Extremsituation wieder Notrecht einzuführen? Auf diese Fragen eine Antwort zu finden, sollte wesentlich sein für jede Exitstrategie.

Über zwei Dutzend Länder haben Auswertungen des britischen Onlineratgebers «Top10VPN» zufolge in den letzten Wochen neue Überwachungstechnologien eingeführt oder bestehende ausgebaut: Programme zum Auswerten von Handydaten, Apps zur Dokumentation von Kontakten und zum Erstellen von Bewegungsprofilen, Technologien zur Gesichtserkennung. Auch in der Schweiz ist die Diskussion um eine Contact-Tracing-App längst lanciert. Und die Swisscom stellt dem Bund bereitwillig Daten zur Verfügung.

Einer, der sich vor diesem neuen «Normalzustand» fürchtet, ist Edward Snowden. Kaum jemand hat sich so ausgiebig mit der Effizienz staatlicher Überwachung beschäftigt wie der Whistleblower, arbeitete er doch selbst jahrelang für den US-Geheimdienst, dessen Datensammelwut er später aufdeckte. Ebendieser Snowden verbreitete aus seinem Moskauer Exil in den letzten Wochen ein ziemlich düsteres Szenario: «Während der Autoritarismus um sich greift, sich Notstandsgesetze verbreiten und wir unsere Rechte opfern, berauben wir uns auch der Möglichkeiten, das Abrutschen in eine weniger freie Welt aufzuhalten. Was gerade gebaut wird, ist die Architektur der Unterdrückung», gab er dem «Vice»-Magazin zu Protokoll.

Dass diese Architektur mehr Kontinuum denn Neuerung ist, haben die Jahre seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bewiesen. In dieser Zeit hat sich ein Narrativ etabliert, das auch jetzt wieder zu passen scheint: Im Kampf gegen den Terror gelte es, sich zwischen Freiheit und Sicherheit zu entscheiden, im Angesicht einer wie auch immer gearteten Gefahr müsse eben auf die Freiheit verzichtet werden. Spricht man nun vom «Krieg gegen das Virus», kann auch eine Gesundheits- schnell zur Sicherheitskrise werden, die repressive Mittel rechtfertigt.

In den Jahren des «Kriegs gegen den Terror» haben sich denn auch die Kategorien verschoben. «Das frühere Ausnahmerecht ist mehr und mehr in das Recht der Normallage hineingeholt worden und in diese eingewandert», so Verfassungsrechtler Volkmann. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Als Reaktion auf die Anschläge von 2001 trat in den USA der «Patriot Act» in Kraft – und verhalf der Regierung zu ungekannten Vollmachten bei gleichzeitiger empfindlicher Einschränkung der Grundrechte.

Was damals als temporär gedacht war, ist bis heute geblieben – auch unter Barack Obama und erst recht unter Donald Trump. Ähnlich verhielt es sich in Frankreich, wo der Ausnahmezustand nach den Anschlägen von Paris so lange verlängert wurde, bis seine vorübergehenden Regeln zu Gesetzen wurden.

Von den Unterdrückten lernen

Snowden warnt nun vor einem ähnlichen Vorgang: Im Kontext einer realen Krise akzeptiere man Überwachung in einem ungekannten Mass, so der Bürgerrechtler in einem Videotalk mit Glenn Greenwald von der Newssite «The Intercept». «Die Regierungen nehmen eine Kommunikationsinfrastruktur, von der man uns versicherte, sie würde nicht zur Überwachung genutzt werden – und nutzen sie zu ebendiesem Zweck. Sie sagen, es sei nötig, um Leben zu retten, es gebe keine Alternative. Das ist nicht wahr.» Natürlich sei das Virus gefährlich. «Aber die Zerstörung unserer Rechte ist fatal, weil sie dauerhaft ist», glaubt Snowden.

Die massenhafte Überwachung der BürgerInnen dürfte mit der Coronakrise neue Dimensionen erreichen. Derweil, so steht zumindest zu befürchten, könnten Freiheiten, die heute eingeschränkt werden, dies auch künftig bleiben. Entscheidend sei, dass die aktuellen Eingriffe «angemessen und verhältnismässig, zeitlich begrenzt, transparent und überprüfbar» seien, mahnt Amnesty International in einem aktuellen Statement.

Doch während das Handytracking zumindest immer breiter diskutiert wird, bleibt der Widerstand gegen die Einschränkungen von Versammlung, Protest und Bewegung weitestgehend aus. «Erstaunlich» sei, bemerkte Juli Zeh, «dass den Menschen ihr Handy wichtiger ist als ihre Bewegungsfreiheit.» Schon lange vor der Coronakrise haben viele Länder in diese Rechte eingegriffen. Die Polizeigesetze in deutschen Bundesländern, die Notstandsgesetze in Frankreich oder Spanien: Sie gaben den Behörden weitreichende Instrumente in die Hand, um Dissens zu erschweren.

Gegenwärtig scheint die Polizei erpicht darauf zu sein, Demos «aus epidemiologischen Gründen» zu zerschlagen – auch wenn AktivistInnen Distanzregeln beachten. In Zürich etwa soll die Polizei eine Kundgebung von fünf Personen aufgelöst haben, die Fussspuren auf den Asphalt malten. Auch aus Deutschland sind ähnliche Beispiele bekannt. Nach welchen Regeln das passiert, ist unklar. Oder warum dürfen sich vor der Migros lange Schlangen bilden, während Leute gebüsst werden, weil sie Pappschilder in die Luft recken? Wo die Befugnisse erweitert werden, ist zuweilen auch die Willkür nicht weit.

Die Bewegungsfreiheit derweil, sie gilt auch im «Normalzustand» bloss selektiv. Wann die Grenzen wieder geöffnet werden und für wen sie weiterhin geschlossen bleiben, ist zurzeit nur schwer vorherzusagen. Dass es wohl nicht das Asylrecht sein wird, das als Erstes wieder eingeführt wird, ist hingegen wahrscheinlich – ebenso, dass die gewaltige ökonomische Krise, die auf die Welt zukommt, die Ärmsten am härtesten trifft.

Auf der Flucht vor den Nazis schrieb Walter Benjamin in seinen Überlegungen zum Geschichtsbegriff: «Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‹Ausnahmezustand›, in dem wir leben, die Regel ist.» Vielleicht beschreibt er die aktuelle Krise gar am besten, schliesslich leben Geflüchtete und andere Entrechtete längst in jenem Ausnahmezustand, an den die Privilegierten sich nicht gewöhnen wollen, ihre Nöte haben sich in der Coronakrise bloss verstärkt. Doch was lässt sich von Benjamins «Unterdrückten» für die Zukunft lernen?

Sicher ist, dass der Angst, die viele derzeit verspüren – ob vor dem Virus selbst oder seinen ökonomischen Folgen – nicht die Wachsamkeit zum Opfer fallen darf. Im besten Fall öffnet der biografische Einschnitt dieser Tage den Privilegierten unter uns die Augen: dafür, dass der «Normalzustand» nicht gegeben ist, er nicht einfach über Nacht zurückkehrt. Dass die rechtliche «Normalität», die für alle gelten soll, immer Aushandlungssache ist, mehr noch ein Kampffeld: Die Menschenrechte für alle sind verbrieft, ihre Wirkung entfalten sie aber nur, wenn sie immer wieder neu erstritten werden.

Zu den Lockerungsübungen, wie sie die Staaten nun versprechen, müssen deshalb auch solche in Recht und Demokratie kommen: jetzt schon die Privatsphäreeinstellungen jeder App kontrollieren oder sie gar nie installieren. Nach Möglichkeit wieder an Demos gehen und darauf achten, dass sie keinen neuen Auflagen unterliegen. Und schliesslich, fast am wichtigsten, den Ausnahmezustand auch im Kopf aufheben. Die Dystopie manifestiert sich auch in Wörtern wie «Social Distancing» und «Contact Tracing». Wir sollten sie, als kollektive Wesen, nicht verwenden.