Personenfreizügigkeit: Dieser Wollknäuel namens Europa

Nr. 39 –

Sie sind drei von Millionen, die dank der Personenfreizügigkeit unterwegs sind. So unterschiedlich ihre Geschichten, Tätigkeiten und Löhne sind: Was ein Regisseur, ein Chirurg und eine Gastromitarbeiterin erzählen, zeugt von einer hochvernetzten Arbeitswelt.

Wo leben alle meine Bekannten? Beim Projekt «Hausbesuch Europa» von Rimini Protokoll werden jeweils zwölf Gäste nach ihrer Wahrnehmung von Europa gefragt. Foto: Pigi Psimenou

1 434 400: So hoch ist die Zahl von Menschen aus EU- und Efta-Staaten, die derzeit in der Schweiz leben. Von ihnen war im Abstimmungskampf über die SVP-Kündigungsinitiative oft die Rede. 471 400: So hoch wiederum ist die Zahl der Menschen mit einem Schweizer Pass, die im EU-Ausland leben. Von ihnen hat fast niemand gesprochen, als verlaufe die Migration wie eine Einbahnstrasse. 332 100: Das schliesslich ist die Zahl der Menschen, die für die Arbeit meist täglich die Grenze in die Schweiz überqueren.

Weder die einen noch die anderen noch die Dritten kamen im Abstimmungskampf ausführlich zu Wort. Die WOZ hat deshalb vor dem Abstimmungssonntag eine EU-Bürgerin, einen Auslandschweizer und einen Grenzgänger gebeten, ihre Migrationsgeschichte zu erzählen. Was hat ihnen die Personenfreizügigkeit ermöglicht? Wie sehen sie das Verhältnis der Schweiz zur EU? Beschäftigt sie die SVP-Initiative? Der Regisseur Stefan Kaegi, der Chirurg Walter Brunner und die Gastromitarbeiterin Francesca Rossi berichten.

Der Auswanderer

Die Zoom-Verbindung in ein Berliner Café wackelt etwas, mal versteht man Stefan Kaegi gut, mal klingt er wie aus weiter Ferne, was ganz gut zur Lebensweise des Mitgründers der Theatergruppe Rimini Protokoll passt. «Jahrelang habe ich nomadisierend in Theaterwohnungen und bei Freunden und Bekannten auf der Couch gelebt», erzählt der Theatermacher. Nach dem Abschluss der Kunstschule F + F in Zürich ging Kaegi nach Giessen, um Theater zu studieren, nach einem Aufenthalt in Frankfurt konnte er sich mit seiner Gruppe in Berlin niederlassen. Seither realisierte er Stücke rund um die Welt, war in Kuba, Ägypten oder Kasachstan – und dazwischen immer wieder in der Schweiz.

Probleme mit den deutschen Behörden hatte Kaegi keine, bis auf eine Ausnahme: «Einmal vergass ich die Anmeldung, die alle drei Jahre nötig war. Da wurde mir mitgeteilt, mein Kontakt könne an die Verfolgungsbehörde weitergegeben werden. Über das Wort bin ich ziemlich erschrocken.» Zuletzt zeigte sich der Staat wieder von der freundlicheren Seite: Kaegi wurde von Amtes wegen angefragt, ob er eine permanente Niederlassungsbewilligung beantragen wolle.

Die Personenfreizügigkeit sei nicht nur für ihn persönlich ein Gewinn. «Unsere freie, rhizomatisch arbeitende Gruppe könnte ohne sie nicht funktionieren.» Technikerinnen, Programmierer und Performerinnen stammten aus verschiedenen Ländern und würden sich immer wieder neu zusammenfinden. Nur gelegentlich spürten sie die alten Grenzen noch: Der Kulissentransport in die Schweiz beispielsweise erfordere trotz der bilateralen Verträge weiterhin das Zolldokument «ATA Carnet».

Für sein Theater des Alltags hat Kaegi 2015 den Schweizer Grand Prix Theater gewonnen. In einem seiner Projekte versucht Rimini Protokoll, das abstrakte Gebilde EU aus einer alltäglichen Perspektive heraus zu beschreiben. Genauer aus dem Wohnzimmer: In «Hausbesuch Europa» werden jeweils zwölf Gäste in einem Wohnzimmer nach ihrer Wahrnehmung von Europa gefragt. «Wenn sie mit Fäden nachzeichnen müssen, wo all ihre Bekannten leben, ergibt sich das Bild eines sehr aktiven Wollknäuels.» 400 Hausbesuche haben inzwischen stattgefunden. Die Erkenntnisse seien nicht repräsentativ, aber immer wieder aufschlussreich: «Im Norden etwa ist die Zukunftsangst deutlich grösser als im Süden.»

Und wie beurteilt der Auslandschweizer die EU-Beziehung des Landes, das zwar mitten in Europa liegt, aber doch nicht richtig dazugehören will? «Ein Schlüsselmoment war für mich die massive Bekämpfung von Steuerflucht. Die EU hat eine durchaus heilsame Wirkung auf gewisse verbrecherische Tätigkeiten der Schweiz.» Auch sonst hegt Kaegi die Hoffnung, dass die EU die Demokratisierung der Globalisierung einfordere, etwa bei der Besteuerung der Techkonzerne. Allerdings sei der Lobbyismus auch sehr mächtig, wie man bei der Förderung der Automobilindustrie beobachten könne.

Bedauerlich findet Kaegi am Abseitsstehen der Schweiz, dass sie dadurch ihre klassische Vermittlerrolle aufgebe, die in der Vielsprachigkeit angelegt sei. Das könne man auch im Alltag feststellen. «Früher, wenn ich mit ausländischen Gästen nach Zürich kam, bemühten sich alle polyglott, mit ihnen englisch oder hochdeutsch zu sprechen. Heute reden viele nur noch Mundart.» Dass die SVP-Initiative am Sonntag angenommen wird, glaubt Kaegi nicht. Falls doch, würde er wohl tun, was ein britischer Freund nach dem Brexit machte: «Den deutschen Pass beantragen.»

Der Grenzgänger

Walter Brunner hat an diesem Vormittag bereits eine Operation durchgeführt. Frühmorgens ist er aus Vorarlberg in die Schweiz gefahren, wo er sowohl am Kantonsspital St. Gallen als auch am Regionalspital Rorschach arbeitet. Am Mittag nun sitzt Brunner in seinem Büro über dem Bodensee. Er ist ein klassischer Grenzgänger: den Beruf auf der einen Seite des Rheins, die Familie auf der anderen.

«Ich kann es jedem empfehlen, über den Tellerrand zu blicken.» Der Österreicher kam nach dem Studium für eine Ausbildung nach Basel, ging zurück nach Salzburg und Wien, vor neun Jahren wurde er in die Schweiz abgeworben. «Für den Wechsel gaben fachliche und weniger finanzielle Gründe den Ausschlag», blickt der Arzt zurück. Hier im Kanton St. Gallen habe er beste Voraussetzungen gefunden, um die Operationsmethoden auf seinem Fachgebiet, der minimalinvasiven Chirurgie, weiterzuentwickeln. Auch Knopflochchirurgie genannt, hinterlässt sie bei Eingriffen nur kleine Narben. Mit seinem Team hat Brunner seither zehn Preise gewonnen.

Dass die Personenfreizügigkeit zu einem Braindrain beitrage – diese Einschätzung teilt er nicht. «Dass sich Spezialisten gute Arbeitsplätze suchen, bei denen sie sich weiterentwickeln können, ist grundsätzlich richtig.» Wichtig sei aber, dass sie ihr gewonnenes Wissen zurückgeben würden. Brunner selbst organisiert regelmässig Workshops für KollegInnen aus anderen Ländern, selbst aus der Ukraine kamen sie an den Bodensee. «Die Coronapandemie führt vor Augen, dass ein Virus keine Grenzen kennt. Das Gleiche gilt für die Medizin. Die ganze Welt forscht zurzeit an einem Impfstoff», sagt Brunner. Seine Begeisterung für den internationalen Austausch von Wissen ist spürbar.

Überhaupt wäre ein Spitalverbund wie jener von St. Gallen ohne MigrantInnen nicht denkbar: «Über alle Tätigkeiten betrachtet, machen sie dreissig Prozent aus, bei den Ärztinnen und Ärzten sind es sogar fünfzig Prozent.» Der grösste Teil stammt aus Deutschland und Österreich, in den anderen Sprachregionen sind es entsprechend Italienerinnen und Franzosen. Brunner ist sich bewusst, dass er zu den privilegierten MigrantInnen gehört. Den Formularkrieg für seine Grenzgängerbewilligung hat der Spitalverbund übernommen. Auch wenn das Spital Rorschach demnächst aus Spargründen geschlossen wird, kann er seine Arbeit als Leiter der Dickdarmchirurgie in St. Gallen fortführen.

Und die Abstimmung über die Personenfreizügigkeit, macht ihn die nicht nervös? Brunner, der sich wegen der Friedensleistung der EU als überzeugter Europäer versteht, will sich nicht zu stark in die Schweizer Innenpolitik einmischen. Einen Hinweis platziert er aber: «Dass Spezialisten heute in der Schweiz arbeiten wollen, hat auch entscheidend mit der Rechtssicherheit zu tun, die von der Personenfreizügigkeit garantiert wird.»

Eine letzte Frage noch: Warum ist er eigentlich nie in die Schweiz gezügelt? Seine Ehefrau komme aus Vorarlberg, meint Brunner. Die Kinder seien schon eingeschult gewesen, als er hier die Stelle angetreten habe. Und vielleicht mache die tägliche Überquerung der Grenze das Abschalten auch einfacher. «In einem zeitintensiven Beruf ist es erst recht wichtig, zu merken, dass die Arbeit viel, aber nicht alles bedeutet.»

Die Einwanderin

Francesca Rossi hatte genug davon, sich von einem Kürzestjob zum nächsten zu hangeln. «In Italien musst du sechs Sachen nebeneinander machen, um zu überleben.» Deshalb brach die studierte Politikwissenschaftlerin, die ihr Geld mit Aufträgen in der audiovisuellen Kommunikation verdiente, vor zwei  Jahren in Richtung Norden auf. Und sie erlebte in der Schweiz, was viele MigrantInnen hier erleben mussten: dass sie ganz unten auf der Lohnskala anfangen müssen, obwohl sie viel besser qualifiziert wären.

Francesca Rossi erzählt ihre Geschichte im Zürcher Büro der Gewerkschaft Unia. Sie ist hierher gekommen, weil sie es schon immer wichtig fand, dass sich Beschäftigte untereinander organisieren. Und auch, weil ihr die Unia in einem Rechtsfall hilft. Rossi will ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Die eigene Situation und die ihres Ehemanns erscheinen ihr zu unsicher.

Zuerst wollte sich Rossi in der Schweiz nur eine Auszeit von einem Monat nehmen. «Doch dann gefiel mir die Lebensqualität in Zürich so gut, dass ich bleiben wollte.» Dazu gehört für sie auch, dass man sich auf einer Arbeitsstelle weiterentwickeln kann. Rossi begann, Bewerbungen in der Kulturbranche zu schreiben, der sie sich zugehörig fühlte. «Aber wegen meiner mangelnden Deutschkenntnisse hagelte es nur Absagen.» Schliesslich fand sie doch noch eine Anstellung, die ihr die ersehnte Aufenthaltsbewilligung brachte: Rossi begann, für ein Subunternehmen Zimmer in Hotels zu reinigen.

Sie kennt also die harte Realität des heutigen Dienstleistungsproletariats, das vielen SchweizerInnen ihren Wohlstand in Sauberkeit ermöglicht. In den Jobs, in denen sie bisher gearbeitet habe, seien alle KollegInnen nur MigrantInnen gewesen: aus Serbien, Afghanistan und Polen, aus Marokko und Eritrea, aus der halben Welt. Rossi will nicht klagen: «Wir sind alle glücklich, hier zu sein.» Da nehme man fürs Erste auch in Kauf, wenn man vergleichsweise weniger verdiene als die SchweizerInnen. Hauptsache, man sehe eine Aufstiegschance. Nur einmal, als gar kein Lohn mehr kam, da begann sie sich mit ihren KollegInnen juristisch zu wehren.

Ihre bisher beste Zeit hatte Rossi bei einer Gastronomiekette. Doch in der Coronapandemie wurde ihr gekündigt. Sie hat bereits eine neue Teilzeitstelle gefunden, bei einem Take-away. Daneben hofft sie, dass ihr die Arbeitslosenkasse einen Deutschkurs finanziert. «Ich bin wohl nicht die Arbeiterin, die sich die SVPler vorstellen», sagt Rossi und lacht. Sie sei keine Fachkraft, die man nach Bedarf anfordern und wieder heimschicken könne, sondern eine Person, die sich ihre eigenen Träume erfüllen wolle. «Meiner Meinung nach sollten alle Leute arbeiten und leben dürfen, wo auch immer sie wollen.»

Die Hetze der SVP gegen AusländerInnen erinnere sie an diejenige von Matteo Salvini in Italien. Dabei sei die Migration doch nicht der Grund der ökonomischen Krisen, höchstens ihr Ausdruck. Migration werde es immer geben: «Schliesslich brauchen die Reichen die Armen und nicht die Armen die Reichen.» Die EU müsse sich auch für Geflüchtete stärker öffnen, betont sie.

Und sie selbst, wo sieht sie sich in fünf Jahren? «Ich hoffe, dass ich dann immer noch hier bin», meint Rossi. «Hier in der Schweiz, wo alles so gut funktioniert, dass es die Schweizerinnen und Schweizer in ihrem dauernden Stress gar nicht mehr wahrnehmen.»