Diesseits von Gut und Böse: Nicht alle, aber zu viele

Nr. 11 –

Frauen werden belästigt – draussen, nachts, im Dunkeln, aber auch tagsüber, im ÖV und an anderen Orten, die Mann geeignet scheinen. Die Ermordung einer 33-jährigen Londonerin durch einen Polizisten (vgl. «Die Angst als ständige Begleiterin» ) hat das Thema erneut hochgespült.

Viel Häme erntete dabei ein «Ratgeber» der Kantonspolizei St. Gallen, der Frauen empfahl – so sie überhaupt nachts allein unterwegs sein müssten –, nur massvoll Alkohol zu trinken und selbstbewusst zu wirken, denn belästigt würden «verschreckte Frauen, die unsicher nach Hause huschen». Die bekannte Perspektive, Frauen seien selbst dafür verantwortlich, ob ihnen etwas zustösst, entfesselte einen Shitstorm. Die Kapo St. Gallen löschte den «Ratgeber»: Er sei veraltet.

Doch alt ist vor allem das Thema selbst. Jede Frau, die ich kenne, egal welchen Alters – und ich eingeschlossen –, ist in ihrem Leben irgendwann im öffentlichen Raum belästigt und/oder bedroht worden – die Skala reicht von Verbalattacken bis zur – zum Glück seltenen – Vergewaltigung. Und jede Frau kennt das ganze Arsenal sogenannter Schutzmassnahmen. Den ominösen Schlüsselbund, der, zwischen die gespreizten Finger geklemmt, auf dem abendlichen Heimweg als Waffe dienen soll, empfahl mir schon meine Mutter, und die wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialisiert.

Unter #NotAllMen beschweren sich jetzt auf Twitter jene, die finden, «so» seien doch nicht alle Männer. Aber die Zahl der Belästiger reicht ja offenbar locker, um das Leben fast jeder Frau in diesem Land mit solchen Erlebnissen anzureichern.

Auch «10 vor 10» berichtete, und da schien es fast, als müsse man bloss die Architektur gendergerecht gestalten, weil Frauen sich halt im Dunkeln fürchten. Bis doch noch kurz Agota Lavoyer (Opferhilfe bei sexueller Gewalt) zu Wort kam: Der Fokus müsse «weg vom Verhalten der Frauen hin zu den Männern und allen, die nur zusehen».