Femizid in Grossbritannien: Die Angst als ständige Begleiterin

Nr. 11 –

Ein Mordfall löst in Grossbritannien eine Debatte über die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum aus. Die Polizei, schnell als Lösung herbeizitiert, ist Teil des Problems.

Eine junge Frau liegt am Boden, zwei Polizisten halten sie nieder und drücken ihr die Hände auf den Rücken. Das Foto, aufgenommen am Samstag in London an einer Mahnwache für die ermordete Sarah E., ist eine eindrückliche Illustration des Problems, über das Grossbritannien derzeit redet.

Der Mord an der jungen Londonerin hat im ganzen Land tiefe Anteilnahme ausgelöst und die BritInnen zu einer gesellschaftlichen Innenschau veranlasst. Im Zentrum steht männliche Gewalt gegen Frauen sowie die konstante Bedrohung, der Frauen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Was muss geschehen, damit sich Frauen auf der Strasse sicher fühlen können? Welche strukturellen Probleme stecken hinter der Gewalt gegen Frauen? Was für eine Rolle spielt die Polizei dabei? Das sind einige der Fragen, die diskutiert werden.

«Es geht hier um uns Männer»

Sarah E., eine 33-jährige Marketingmanagerin, verschwand am 3. März im Londoner Stadtteil Clapham, als sie auf dem Weg nach Hause war. Vergangene Woche wurde ihr Leichnam in einem Wald in der Grafschaft Kent gefunden. Dass der Fall so grosse Betroffenheit ausgelöst hat, liegt nicht zuletzt daran, dass sich viele Frauen genau davor fürchten: mitten in der Stadt auf offener Strasse attackiert zu werden. «Es ist der Beweis, dass unsere Angst nicht grundlos ist», schrieb die Schriftstellerin Rebecca Reid auf Twitter.

In den letzten beiden Wochen haben Frauen in den sozialen Medien über ihre unzähligen Erfahrungen mit Belästigung gesprochen – und über die routinemässigen Sicherheitsmassnahmen, die sie selbst treffen: Immer Schlüssel in der Faust halten, wenn man allein unterwegs ist; grosse Umwege machen, um einsame Strassen zu meiden; einer Freundin ein SMS schreiben, sobald man sicher zu Hause angekommen ist. In einer Umfrage von 2019 gaben achtzig Prozent der Britinnen an, im öffentlichen Raum sexuell belästigt worden zu sein.

«Den meisten Männern ist nicht ausreichend bewusst, wie stark die Angst vor Gewalt das Leben von Frauen bestimmt», schrieb die Journalistin Rachel Hagan auf der Plattform Open Democracy. Dass sich die Diskussion nicht auf Sicherheitsstrategien für Frauen beschränken darf, betonen auch viele Kommentatoren. «Es geht hier um uns Männer», sagte der Autor Chris Hemmings, der ein Buch über Machokultur geschrieben hat, in einem Interview mit der BBC. «Wir sind hier die Schuldigen.» Nicht das individuelle Verhalten von Männern sei entscheidend, stattdessen sollte der Fokus auf der Gesellschaft liegen: «Es geht um die kollektive Sozialisierung von Männern, die dazu geführt hat, dass manche Männer Frauen Gewalt antun.»

Die Frage der staatlichen Verantwortung für den Schutz von Frauen hat in diesem Fall eine besondere Relevanz: Der Hauptverdächtige Wayne C. ist ein Polizist. Dennoch klammert sich der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan an die Überzeugung, dass mehr Sicherheit in erster Linie durch mehr Ordnungskräfte gewährleistet sei: Man werde auf den Strassen ab sofort häufigere Polizeipatrouillen sehen, damit die Bevölkerung keine Angst haben müsse, sagte er letzte Woche.

Wie fragwürdig diese simple Lösung ist, wurde wenige Tage später demonstriert, als im Londoner Park Clapham Common eine Mahnwache für Sarah E. abgehalten wurde. Die Kundgebung war aufgrund der Covid-Einschränkungen nicht bewilligt worden, aber trotzdem fanden sich im Park Hunderte Menschen zusammen, die meisten von ihnen Frauen. Als die Dunkelheit einbrach, kam die Polizei. Die BeamtInnen bahnten sich schubsend einen Weg durch die Menge, trampelten über die niedergelegten Blumen und begannen, Frauen wegzuzerren und ihnen Handschellen anzulegen. «Ich hatte noch nie solche Angst», sagte die eingangs erwähnte Frau, die von den Polizisten niedergehalten wurde.

Eine andere Teilnehmerin berichtete später, dass sie am Rand der Mahnwache durch einen Mann belästigt worden sei, der sich ihr gegenüber entblösst habe. Sie erstattete der Polizei Meldung, aber der betreffende Beamte habe ihre Beschwerde ignoriert und gesagt: «Wir haben heute genug gehabt von den Krawallmacherinnen.» Die «Krawallmacherinnen», das waren die trauernden Frauen.

Anzeigen nicht ernst genommen

Auch das hat man in den letzten Tagen immer wieder gehört: Polizisten – in London gibt es mehr als doppelt so viele Beamte wie Beamtinnen – nehmen Frauen, die wegen Belästigung und Missbrauch Anzeige erstatten, nicht ernst. Bereits vor zwei Jahren legte das Centre for Women’s Justice Beschwerde bei der Polizeiaufsichtsbehörde ein, weil die Polizei in Fällen von sexueller Belästigung und Vergewaltigung zu lasch vorgehe und die Opfer zu wenig schütze. Die Organisation warf der Polizei «systematisches Versagen» vor.

Trotz des gewaltsamen Vorgehens der Metropolitan Police am Wochenende – oder vielleicht gerade deswegen – hat es seither weitere Kundgebungen und Proteste gegeben. Es könnte ein Wendepunkt sein. Übergriffe der Polizei waren bislang vor allem für BritInnen aus ethnischen Minderheiten und tieferen sozialen Schichten eine Realität. Die grosse Anteilnahme am Mord an Sarah E. sowie die Wut über das Vorgehen der Polizisten könnte die Forderung nach einer institutionellen Reform auf eine breitere gesellschaftliche Basis stellen.