Feministischer Streik: «Jung und Alt müend zämestah»

Nr. 24 –

100 000 Menschen protestierten am feministischen Streiktag in der ganzen Schweiz gegen Lohnungleichheit, die Geringschätzung von Care-Arbeit, Sexismus – und gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters. Mittendrin die pensionierten Frauen des Silber-Teams.

«Wir wollen Action!»: Leslie Lehmann (vorn) mit den anderen Frauen vom Silber-Team auf dem Berner Waisenhausplatz.

Der Frust über den Abstimmungssonntag ist den acht Frauen nicht anzumerken, als sie zur Mittagszeit vergnügt über den Berner Waisenhausplatz schlendern. Sie tragen Lila und Streikbuttons am Streikshirt, haben sich Streikfahnen um die Hüften geschlungen und Pappschilder geschultert, fast alle haben graue Haare – es ist klar, warum sie hier sind: Es ist der 14. Juni 2021, feministischer Streiktag – zwei Jahre nach dem letzten grossen Frauenstreik, dreissig Jahre nach dem legendären ersten, fünfzig Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts. Auf dem Platz stehen Infostände, Dutzende Paar aufgestellte Schuhe stehen symbolisch für die fehlenden Plätze in Frauenhäusern, im Schatten der Partypavillons wird gepicknickt.

Auch das Silber-Team, so nennen sich die acht Frauen, packt Sandwiches aus und wartet auf seinen eigenen Auftritt. «Wir waren schon 1991 beim grossen Frauenstreik dabei. Jetzt sind wir zwar pensioniert, aber wir wollen nicht langweilig auf dem Bundesplatz herumstehen. Wir wollen Action!», sagt Bettina Dauwalder (67). Sie hat zusammen mit Regula Keller (71) für den Frauenstreik 2019 das Silber-Team ins Leben gerufen, eine Gruppe von Frauen im Pensionsalter, die meisten sind auch Grossmütter. Heute treten sie zum zweiten Mal in Aktion. «Wir sind der Meinung, dass sich die Probleme, die die jungen und mittelalten Frauen haben, bis ins hohe Alter durchziehen. Deshalb sind wir heute hier», so Dauwalder weiter. «Wir wollen unsere Solidarität nicht nur mit den Frauen in der Schweiz, sondern weltweit ausdrücken. Mit all jenen, die nicht so privilegiert sind wie wir.»

Dauwalder war bis zu ihrer Pensionierung Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitsberufe beim Schweizerischen Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). So lernte sie etwa die prekäre Lebensrealität der 24-Stunden-Betreuerinnen kennen. Noch dröhnen die noisigen Bassklänge von Delay-Diz durch die Mittagshitze, da tritt eine weitere grauhaarige Frau hinzu und wird begrüsst mit: «Ah, du bist die, die so hässig war!» Es ist Katharina Prelicz-Huber, grüne Nationalrätin und VPOD-Präsidentin, die letzte Woche in ihrem Kampf gegen eine Erhöhung des Frauenrentenalters im Bundeshaus auf verlorenem Posten stand. Sie lacht, und während sich das Silber-Team den Auftritt von Delay-Diz anschaut, lässt Prelicz-Huber nochmals Dampf ab: «Mein grösster Ärger an der ganzen Sache war, dass bei der AHV eine Sanierung immer nur Abbau bedeutet. Die AHV sollte die Existenz sichern und besser noch ein gutes Leben ermöglichen. Doch das gilt nur für eine Minderheit der Frauen. In der ganzen Debatte wurde nicht ein Wort darüber verloren, dass man die Renten erhöhen müsste. Wir haben ein Rentenproblem!» Rufts und wird zu einem Gruppenfoto geholt.

Weniger als 3000 Franken Rente

Nun ist das Silber-Team dran. Mit geschulterten Schildern laufen sie im Kreis rückwärts, rufen: «Rückwärts stopp, vorwärts Frauerächt, Jung und Alt müend zämestah, Jung und Alt wei vorwärts gah.» Sie thematisieren das ganze Paket: Solidarität mit Sans-Papiers, Altersarmut, die Systemrelevanz von sogenannten Frauenberufen, Lohnungleichheit, Arbeitsbedingungen in der Pflege alter Menschen oder unbezahlte Care-Arbeit von Grossmüttern. Leslie Lehmann (77) stellt sich auf einen kleinen Hocker und liest laut von einem Pappschild ab: «Die Renten der Frauen sind 37 Prozent tiefer als die der Männer. Sichere Renten für Frauen bekämpfen das Armutsrisiko und erlauben ihnen ein würdiges Altern. Die AHV-Reform 2021 soll auf dem Buckel der Frauen erfolgen. Dazu sagen wir: Nein!» Applaus. Leslie Lehmann weiss, wovon sie spricht: «Ich war stets in einer Tieflohnbranche tätig», sagt die gelernte Buchhändlerin und Gründerin des Berner Chinderbuechlade. Sie und ihr Partner arbeiteten immer Teilzeit, damit auch noch Zeit für politisches Engagement und Freiwilligenarbeit mit Geflüchteten blieb. «Heute bin ich alleinstehend und bekomme insgesamt eine Rente von weniger als 3000 Franken im Monat. Viele Frauen befinden sich in einer ganz ähnlichen Situation.» Annemarie Gloor (68) ergänzt: «Mein Mann und ich haben Familien- und Erwerbsarbeit immer geteilt, aber nicht 50 : 50. Bevor ich Sozialpädagogin wurde, arbeitete ich als Schneiderin und verdiente zu wenig, um etwas in die Pensionskasse einzuzahlen. Zum Glück bin ich verheiratet, und wir können teilen, sonst würde meine Rente nirgends hinreichen, und ich müsste Ergänzungsleistungen beantragen. Darum ist unsere Forderung, dass auch Haus- und Betreuungsarbeit in die Altersvorsorge einbezogen wird.» Und Regula Keller fügt hinzu: «Es ist klar, dass die Bürgerlichen als nächsten Schritt das Rentenalter 67 für alle fordern werden. Dagegen müssen wir uns jetzt schon wehren.» Die pensionierte Lehrerin ärgert sich, dass immer behauptet werde, es sei zu wenig Geld da für die AHV: «Das ist eine völlig falsche Auffassung. Die AHV ist ein Sozialwerk, das unsere Vorfahren erkämpft haben und das nach dem Umlageverfahren funktioniert. Wenn es wirklich einmal zu wenig Geld gäbe – was ich stark bezweifle –, dann hätten wir 300 Meter von hier die Nationalbank, die Milliarden in die AHV einschiessen könnte, anstatt die Banken zu retten.»

Kein Grossvater auf dem Spielplatz

Das Silber-Team zieht weiter zum Kornhausplatz, wo der Stand der Berner Kitamitarbeiterinnen noch etwas verloren dasteht, und führt seine Performance ein weiteres Mal auf. Auch hier geht es um Solidarität. Die Arbeitsbedingungen in der Kinderbetreuung sind ähnlich wie in der Pflege kaum mit einer eigenen Familie zu vereinbaren, das ist nur mit einem Teilzeitpensum möglich. Doch die Löhne der Kitabetreuerinnen sind so tief, dass Teilzeitarbeit einen massiven Rentenverlust bedeutet. Wegen der hohen Kinderbetreuungskosten springen jedoch auch zahlreiche Grossmütter in die Bresche und betreuen ihre Enkelkinder während rund achtzig Millionen Stunden pro Jahr, so steht es auf einem Schild des Silber-Teams. Grossmütter übernehmen zudem oft die Pflege älterer und erkrankter Angehöriger. Die Forderung: «Mehr qualifizierte und bezahlbare Kinderbetreuungsangebote! Eine gute Betreuung und Pflege im Alter ist eine öffentliche Aufgabe und muss für alle bezahlbar sein.»

Auch die meisten Silber-Team-Frauen betreuen ihre Enkelkinder regelmässig. Therese Matter, die ihre eigenen zwei Töchter alleine grossgezogen hat, zum Beispiel an zwei Tagen in der Woche: «Wenn ich mich auf dem Spielplatz umschaue, sehe ich viele andere Grossmütter, die die volle Verantwortung für ihre Enkelkinder übernehmen. Grossväter hingegen sind nur selten dabei.» Obwohl sie kürzlich 64 geworden ist, arbeitet sie weiter als Yogalehrerin. Die Pensionierung kann sie sich nicht leisten, zu viele Lücken in der Pensionskasse: «Ein unmögliches Konstrukt. Unser Rentensystem ist darauf angelegt, dass man mit 20 Jahren in einen Beruf einsteigt und mit 65 aufhört», sagt Bettina Dauwalder. Hinzu komme, dass längst nicht alle Frauen bis 65 durchhalten könnten, die Arbeitsbedingungen in der Pflege seien zum Teil fast so anstrengend wie auf dem Bau, die Schichtarbeit eine zusätzliche Belastung. «Ich wünsche mir, dass wir auch mal über innovative Modelle sprechen könnten. Mit einer Lebensarbeitszeit etwa würde es möglich, mit 40 eine Pause einzulegen, ohne dafür bestraft zu werden, oder mit 60 das Pensum zu reduzieren, ohne grosse Rentenverluste einzufahren. Aber das sind natürlich Wunschträume …»

Insgesamt vier Mal führt das Silber-Team seine Performance an diesem feministischen Streiktag auf. Blieben auf dem Kornhausplatz kaum Leute stehen, gesellen sich beim Casinoplatz Kinder dazu, die mit ihnen rückwärts laufen, und zurück auf dem Waisenhausplatz singt das Publikum den Refrain mit: «Rückwärts stopp! Vorwärts Frauerächt! …»

Vom viel beschworenen Generationenkonflikt will hier niemand etwas wissen. «Das ist eine bürgerliche Behauptung», sagt Leslie Lehmann fast schon genervt. «Die AHV ist ein soziales Konstrukt. Ich gehöre noch zu den Leuten, die in den ersten Jahren nach 1949 Beiträge geleistet haben für Leute, die selbst nie etwas in die AHV einbezahlt haben. Das war total selbstverständlich. Ich bemerke auch heute keinen Generationenkonflikt.»

Am Abend wird das Silber-Team mit weit mehr als 10 000 anderen Frauen, queeren und nonbinären Menschen in Bern demonstrieren. Sie werden Teil der kilometerlangen Menschenkette quer durch die Berner Innenstadt sein, die sich schliesslich einer weiteren Demo anschliesst und auf den Bundesplatz zieht. Gemeinsam werden sie feiern bis zum Eindunkeln.